Lenin ist noch immer präsent
1917 siegte Lenin in der Oktoberrevolution. 1922 gründete er die Sowjetunion. Seit seinem Tod liegt er einbalsamiert im Mausoleum in Moskau – und bringt Russland zum Jahrestag in einen Zwiespalt.
Auch Sowjet-Mentalität steckt weiter in Köpfen
MOSKAU. Die Augen sind geschlossen, die Hände sorgsam auf die Oberschenkel postiert, links flach, rechts mit eingerollten Fingern. Unter dem Spitzbärtchen ist eine blaue Krawatte mit weißen Punkten angelegt. Ein schwarzer Anzug kleidet Wladimir Iljitsch Lenin staatsmännisch. Hier auf dem Roten Platz in Moskau, im Mausoleum aus schwarzem Labradorstein und rotem Porphyr, liegt der einstige Revolutionsführer seit Jahrzehnten.
Die Touristen stehen gern Schlange. Besuchszeit ist an fünf Tagen die Woche, jeweils drei Stunden. Dieser einbalsamierte Leichnam ist wohl eines der stärksten Symbole, das aus der Sowjetunion ins gegenwärtige Russland hinüberragt. In diesen Tagen vor 100 Jahren hat Lenin die Macht ergriffen.
Die Bolschewiki nahmen den Winterpalast im damaligen Petrograd, dem heutigen St. Petersburg, ein und ein ganzes Reich geriet in Lenins Hände – wobei es dafür gar keiner Erstürmung mehr bedurfte, auch wenn stilisierte Bilder über jene Tage das bis heute glauben machen wollen. Die Roten, sie fielen sodann in einen blutigen Bürgerkrieg mit den Weißen, Gegnern und Anhängern eines zaristischen Russlands. Wie es ausging, ist bekannt.
70 Jahre Sowjetzeit sind in Russland noch spürbar und Versatzstücke alter Zeiten prägen das Heute. Doch die Lebenswirklichkeit hat mit der einstigen Sowjetunion nicht viel zu tun. Wer versteht, wie weit Russland vom Sozialismus entfernt ist, dem muss das Mausoleum wie ein Anachronismus vorkommen. Manche Politgrößen sähen es lieber gestern als morgen abgeschafft. Die gesellschaftliche Meinung jedoch ist gespalten. Begrabt ihn doch endlich, damit er seine Ruhe findet, sagen die einen. Die anderen wehren vehement ab. Der Moskauer Historiker Nikita Sokolow sagt: „An diesem Punkt stehen wir seit vielen Jahren unverändert.“
Viel ist ja nicht übrig von Lenin. Er ist hohl. Aufwendig ausgeklügelte biochemische Verfahren erhalten die Hülle. Eine Hülle, die am ehesten noch Projektionsfläche für verlorene Sehnsüchte sein kann. Das Verhältnis der Russen zu Lenin ist heute ungeklärter denn je. „Im öffentlichen Bewusstsein ist er aus dem Blickfeld geraten“, sagt Historiker Sokolow. „Lenin passt nicht ins heutige ideologische Schema, das die Staatsmacht aufbaut.“
Wo der wichtigste Bezugspunkt im Zuge der vergangenen zehn Jahre der Sieg über Hitlerdeutschland und das Jahr 1945 geworden sei. Lenin fällt fast hinten runter, zumal er das Symbol einer Revolution ist. „Eine Tragödie, die den großen Staat zerstört hat“, erklärt Sokolow. Das sei die Sichtweise, die von Staats wegen dominiere – und von dieser Warte aus sei jede Revolution schlecht. Einzig die Kommunisten halten fest zu Lenin. Sie sitzen in der Duma, in Regionalparlamenten sowie Bürgermeisterämtern und vertreten für viele Menschen wichtige Positionen sozialer Gerechtigkeit. Während es keine offiziellen Feierlichkeiten geben wird, plant die Kommunistische Partei auf eigene Faust eine Festwoche rund um den Jahrestag der Oktoberrevolution am 7. November.
Landesweit hat Lenin im heutigen Russland eine erstaunliche Präsenz. Alte Denkmäler stehen in jeder Stadt. Einer Frühjahrs-Umfrage des unabhängigen Meinungsforschungszentrums Lewada zufolge sieht es eine überwiegende Mehrheit lieber, die Lenin-Statuen an Ort und Stelle zu belassen. Lenin, zwei Jahre nach Gründung der Sowjetunion verstorben, behält einen Nimbus: Zwar gibt es Neostalinisten in Russland genug, und Stalin erfuhr zuletzt eine Aufwertung im Geschichtsbewusstsein des heute von Präsident Wladimir Putin regierten Landes. Doch angesichts der Opfer von Deportation, GulagSystem und Repression, derer jetzt im Zentrum von Moskau auch mit einem zentralen Monument gedacht wird, verbinden viele Russen mit Lenin die leise Frage, ob das gigantische Gesellschaftsexperiment Sowjetunion mit ihm vielleicht besser ausgegangen wäre.
Womöglich ist das Mausoleum auch deshalb bisher unangreifbar. Die Kommunisten wollen dort rund um den Jahrestag Blumen ablegen. An dieser ewigen Ruhestätte, wo Lenin doch keine Ruhe findet. Sein Schatten fällt auf die russische Gegenwart.
Die Sowjetunion ist 1991 untergegangen, aber ihre Mentalität scheint unausrottbar zu sein. Nach dem Zerfall der Sowjetunion hat der Geheimdienst KGB als FSB seine Aktivitäten fortgesetzt. Und das Staatsfernsehen bagatellisiere bis heute die Opfer der Repression des Sowjetsystems, klagen Menschenrechtler.