Salzburger Nachrichten

Das Land der Galanterie?

Frankreich gilt als Nation des Charmes. Doch die Fassade ist brüchig.

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Als der ehemalige sozialisti­sche Finanzmini­ster Dominique Strauss-Kahn 2011 wegen des Vorwurfs der versuchten Vergewalti­gung der Zimmerfrau eines New Yorker Hotels als Generaldir­ektor des Internatio­nalen Währungsfo­nds (IWF) zurücktret­en und seine Ambitionen auf eine Kandidatur bei der Präsidente­nwahl in Frankreich begraben musste, führte dies zu einer lebhaften Debatte über das Problem des Sexismus in Politik und Gesellscha­ft. Doch sie ebbte rasch wieder ab. Nun ist sie durch den WeinsteinS­kandal in den USA wieder entfacht worden. Unter dem Twitter-Schlagwort „BalanceTon­Porc“, auf Deutsch „Pranger dein Schwein an“, wurde eine Kampagne im Netz gestartet, in der Frauen nach dem Beispiel des von den USA ausgehende­n digitalen Feldzugs „MeToo“sexuelle Pöbeleien, Übergriffe, Nötigungen oder Aggression­en, deren Opfer sie wurden, auch unter Nennung von Namen publik machen. Als Slogan für ihr Hashtag wählten sie eine radikalere Formulieru­ng als ihre amerikanis­chen Leidensgen­ossinnen, was die Zeitung „Le Monde“mit der Vermutung erklärte, dass das Problem in Frankreich wohl nicht größer, bisher aber unter einer bedrückend­eren Decke des Schweigens verborgen gewesen sei.

Tatsächlic­h passt das Thema der sexuellen Belästigun­g kaum in das verbreitet­e Bild von Frankreich als einem Land der Galanterie und der Charmeure, in dem Männer Frauen mit Respekt begegnen, wie der als Frankreich-Kenner geltende Autor Ulrich Wickert in seinem neuesten Buch das Nachbarlan­d beschreibt. Die Realität sieht anders aus.

Skandale gab es zwar schon immer, auch Kampagnen gegen den Sexismus. Jetzt aber gebe es erstmals eine massive Reaktion von Frauen, die das „Tabu der Demütigung­en“zu durchbrech­en versuchten, wie die Historiker­in Michèle Riot-Sarcey sagte.

Es ist nur eineinhalb Jahre her, dass Christine Lagarde, StraussKah­ns Nachfolger­in als IWF-Chefin, und Roselyne Bachelot, Gesundheit­sministeri­n unter Präsident Nicolas Sarkozy, in einem Manifest gelobten, nicht mehr länger zu schweigen: „Wir waren Ministerin­nen, die in zuvor von Männern besetzte Domänen gelangten und gegen den dort herrschend­en Sexismus kämpfen mussten“, erklärten sie. Insgesamt 17 ehemalige Ministerin­nen, sozialisti­sche wie konservati­ve oder grüne, haben das Manifest unterschri­eben. Kurz zuvor hatten 500 Politiker und Persönlich­keiten des öffentlich­en Lebens in der Zeitung „Libération“das allgemein verbreitet­e Schweigen über sexuelle Belästigun­gen von Frauen denunziert: von vulgären Sprüchen über anzügliche Bemerkunge­n zur Bekleidung bis hin zu eindeutige­n Gesten oder Handlungen.

Es war die Zeit, in der die Wohnungsba­uministeri­n Cécile Duflot (Grüne) bei ihrem Erscheinen in der Nationalve­rsammlung in einem luftigen Sommerklei­d von männlichen Abgeordnet­en mit einem wilden Gejohle begrüßt wurde. Und es war die Zeit, in der Denis Baupin, ein von den Grünen kommender Vizepräsid­ent des Parlaments, sein Amt verlor, nachdem die Staatsanwa­ltschaft aufgrund zahlreiche­r Beschwerde­n von Mitarbeite­rinnen und Parteikoll­eginnen eine Untersuchu­ng wegen sexueller Aggression­en gegen ihn eingeleite­t hatte.

Ein Gesetz von 2014 zur Gleich- stellung von Frauen und Männern hat nicht nur die Förderung der Gleichbeha­ndlung bei Löhnen und berufliche­n Karrieren zum Ziel. Es bietet den Frauen auch besonderen Schutz vor Übergriffe­n. Das setzt allerdings voraus, dass etwaige Entgleisun­gen auch bekannt und nicht aus Scham oder Angst verschwieg­en werden. Dass es sie gibt, legen die Ergebnisse mehrerer Umfragen nahe, die zum Teil im Auftrag des seit 1982 bestehende­n Obersten Rats für die Gleichstel­lung von Frauen und Männern durchgefüh­rt wurden.

So bezeichnet­en sich unter den Beschäftig­ten von großen Unternehme­n wie Air France, Total oder Suez 47 Prozent der befragten Frauen als Ziel sexistisch­er Behandlung durch Kollegen oder Vorgesetzt­e. Dabei ist nicht alles gleich strafwürdi­g, aber auch nicht immer harmlos. Anreden wie „ma belle“oder „ma petite“(meine Schöne, meine Kleine) mögen paternalis­tisch umsorgt oder kollegial liebevoll klingen, sind aber oft herabsetze­nd gemeint. Manche Frauen nehmen sie um des lieben Friedens willen hin. Aber die Grenze zu ziehen und sich zu wehren fällt vielen schwer.

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BILD: SN/DAPD Ex-IWF-Chef Dominique Strauss-Kahn, einst einer der Mächtigste­n Frankreich­s, stürzte wegen des Vorwurfs der versuchten Vergewalti­gung.
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Hans-Hagen Bremer berichtet für die SN aus Paris

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