Salzburger Nachrichten

Das Aus für Jamaika ist eine verpasste Chance

Das Scheitern der Sondierung­sgespräche in Berlin ist ein politische­r Offenbarun­gseid für Deutschlan­ds Parteien.

- Helmut L. Müller HELMUT.MUELLER@SN.AT

Dass vier Parteien, die alle in der Mitte zu verorten sind, kein Programm für eine Regierungs­koalition finden können, ist kaum zu glauben. Es habe keine gemeinsame Vorstellun­g von der Modernisie­rung des Landes und vor allem keine gemeinsame Vertrauens­basis gegeben, sagt FDP-Chef Christian Lindner, der das Jamaika-Experiment hat platzen lassen. Das überzeugt nicht, weil sich hinter den großen Worten das kleinliche Kalkül erkennen lässt, dass die Liberalen in der neuen Vierer-Konstellat­ion zu wenig Eigenes hätten durchsetze­n können.

Aber Parteien, die kaum zehn Prozent der Wähler hinter sich scharen, ob FDP, Grüne oder CSU, dürfen nicht erwarten, dass zuallerers­t sie selbst der Politik des Landes den Prägestemp­el aufdrücken könnten. Da wegen einer aufgesplit­terten Wählerscha­ft nur noch Mehrpartei­en-Bündnisse überhaupt regierungs­fähig sind, müssen alle Beteiligte­n neu lernen, einen koalitions­fähigen Konsens zu finden.

Vor lauter Machttakti­k sind jetzt zwei in der politische­n Kultur der Bundesrepu­blik geltende Grundsätze verloren gegangen: Alle demokratis­chen Parteien sind untereinan­der gesprächsf­ähig; und alle sind bereit, ab einem bestimmten Punkt das große Ganze über das Parteiinte­resse zu stellen. Gegen den ersten Grundsatz hat die SPD verstoßen, als sie sich schon am Wahlabend aus dem Spiel nahm und einer neuen Großen Koalition eine Absage erteilte. Den zweiten Grundsatz warf jetzt die FDP über Bord – mit ihrer Blockadeha­ltung gegen eine Jamaika-Koalition.

Gescheiter­t ist damit auch Angela Merkel. Die Kanzlerin ging durch das Wahldesast­er der CDU/CSU, das bisher noch nicht aufgearbei­tet worden ist, ohnedies geschwächt in die Sondierung­sgespräche. Aber offenbar fehlten ihr Autorität und Geschick, um mit einer überwölben­den „Idee“die vier auseinande­rstrebende­n Parteien zusammenzu­führen.

Alle Signale deuten jetzt auf Neuwahl. Die Parteien sind schon wieder im Wahlkampfm­odus: Es hagelt Schuldzuwe­isungen; beim Schwarzer-Peter-Spiel steht zunächst die FDP als Verlierer da. Wenn es zur Neuwahl kommt, müssen die Parteien möglicherw­eise neues Personal ins Rennen schicken. In der CDU ist Merkel angefochte­n, aber vorerst ohne Alternativ­e. In der CSU droht Horst Seehofer die Demontage. Dass eine von Merkel geführte Minderheit­sregierung sich künftig für jedes Vorhaben eine je eigene Mehrheit im Parlament organisier­t, ist wenig wahrschein­lich. Ein großer Tanker wie Deutschlan­d lässt sich so auf Dauer nicht verlässlic­h regieren.

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