Reaktionen: Schlechte Nachrichten für Europa
Mehr als vier Wochen hatten CDU, CSU, FDP und Grüne um Kompromisse gerungen. Allein am Sonntag saßen die Unterhändler noch einmal fast 13 Stunden zusammen. Dann stoppten die Liberalen abrupt den Verhandlungsmarathon, der bis zum Schluss von Vorwürfen und Streit geprägt war. Nun sind drei Szenarien denkbar.
1.
Die SPD verhandelt entgegen aller bisherigen Beteuerungen doch noch über eine Neuauflage einer schwarz-roten Koalition. Nur sieht es so gar nicht danach aus. Die SPD hat sich auf die Oppositionsrolle festgelegt und rückt davon bisher nicht ab. „Wir scheuen Neuwahlen unverändert nicht“, sagte Parteichef Martin Schulz am Montag nach einer Vorstandssitzung in Berlin. Die SPD stehe angesichts ihres Ergebnisses bei der Bundestagswahl „für den Eintritt in eine Große Koalition nicht zu Verfügung“. Die SPD-Spitze hatte am Abend der Bundestagswahl Ende September unmittelbar nach dem historischen Absturz auf 20,5 % der Stimmen entschieden, eine neue Große Koalition mit der Union abzulehnen und in die Opposition zu gehen.
Fazit: Nahezu ausgeschlossen.
2.
Ein zweites denkbares Szenario ist eine Minderheitsregierung unter Führung Angela Merkels, etwa mit den Grünen oder der FDP. Merkel würde dann bei Abstimmungen einige Dutzend Stimmen aus anderen Fraktionen benötigen. Aber: Dieses in anderen Ländern übliche Modell ist in Deutschland auf Bundesebene noch unerprobt. Und in den politisch unruhigen Zeiten wäre es misslich für Kanzlerin Merkel, wenn sie sich bei jedem Gesetz Unterstützung von einer Oppositionsfraktion holen müsste.
Zudem ist das Zustandekommen einer solchen Minderheitsregierung kompliziert: Der Bundespräsident muss zunächst jemanden für das Amt des Bundeskanzlers vorschlagen. Diese Person wird Kanzler(in), wenn mehr als die Hälfte der Mitglieder des Bundestags für sie stimmen („Kanzlermehrheit“). Findet der Vorschlag des Bundespräsidenten Jamaika farewell . . . keine Mehrheit, beginnt die zweite Wahlphase. Der Bundestag hat jetzt zwei Wochen Zeit, sich mit absoluter Mehrheit auf einen Kanzler zu einigen. Die Zahl der Wahlgänge ist nicht begrenzt, ebenso wenig die Zahl der Kandidaten. Dem Bundestag steht es also frei, die zwei Wochen ungenutzt verstreichen lassen – oder etwa fünfzehn Mal zu versuchen, einen Kandidaten zu wählen.
Kommt auch in diesen zwei Wochen keine Kanzlermehrheit zustande, beginnt die dritte Wahlphase. In diesem letzten Wahlgang reicht schon die relative Mehrheit. Gewählt ist also, wer von allen Kandidaten die meisten Stimmen erhält. Nun muss wieder der Bundespräsident handeln. Wird jemand nur mit relativer Mehrheit gewählt, kann der Bundespräsident sie zur Kanzlerin oder ihn zum Kanzler einer Minderheitsregierung ernennen. Das bedeutet dann eben: Selbst wenn Merkel zum Beispiel ein festes Bündnis mit den Grünen geschlossen hätte, müsste sie dann etwa für den Beschluss des Bundeshaushalts Stimmen aus anderen Fraktionen gewinnen – also von FDP, Linken, SPD oder AfD. Die Regierenden würden sich dann wohl besonders um SPD oder FDP bemühen
Eine Große Koalition ist rechnerisch möglich
und müssten entsprechende Kompromisse eingehen. Wobei sich die Union und Grüne wohl politisch eine Mehrheit mit extremen Parteien wie Linken oder AfD kaum leisten könnten. Fazit: Unwahrscheinlich.
3.
Als drittes Szenario denkbar ist eine Neuwahl. Der Weg dorthin ist aber verfassungsrechtlich nicht einfach. Denn eine mögliche Neuwahl ist erst nach einer Kanzlerwahl (beschrieben in Punkt zwei) möglich. Sieht der Bundespräsident davon ab, Merkel zur Kanzlerin einer Minderheitsregierung zu ernennen, kann er den Bundestag auch auflösen. Nach der Parlamentsauflösung muss innerhalb von 60 Tagen neu gewählt werden.
Aber: Nach derzeitigem Stand ist nicht zu erwarten, dass eine Neuwahl die politischen Verhältnisse im Lande klären würde. Laut aktuellen Meinungsumfragen würde ein neuer Urnengang die Kräfteverhältnisse im Parlament nicht wesentlich verändern. Rechnerisch würde es wohl wieder nur für Jamaika oder die Große Koalition reichen.
Fazit: Wahrscheinlich. In den anderen EU-Staaten wurde das Scheitern der Sondierungsgespräche in Berlin mit Stirnrunzeln aufgenommen. Wenn Deutschland länger handlungsunfähig bleibt, könnte das den ambitionierten Reformplan, der im Zuge des Brexit erarbeitet wurde, durcheinanderbringen. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der nächtens noch mit Bundeskanzlerin Angela Merkel telefoniert hatte, zeigte sich besorgt, dass sich die Lage anspannen könnte. „Im Sinne Deutschlands und Europas wollen wir, dass unser wichtigster Partner stark und stabil ist, damit wir die Dinge gemeinsam voranbringen können“, erklärte der Elysée-Palast. Der niederländische Außenminister Halbe Zijlstra meinte, es sei „eine schlechte Nachricht für Europa, dass die Regierungsbildung etwas länger dauern wird“. Der belgische Außenminister Didier Reynders erklärte, es werde in immer mehr Ländern der EU zur Praxis, dass Koalitionsverhandlungen nicht Tage oder Wochen, sondern Monate dauern.
Eine Minderheitsregierung unter Merkels Führung Deutschland wählt noch einmal
Österreichs Finanzminister Hans Jörg Schelling (ÖVP) sagte, damit werde eine „sehr, sehr schwierige Situation“auch für Europa ausgelöst. Die EU sei mitten in einer Diskussion, ob und wie man Europa vertiefen soll – „und da ist ein Partner wie Deutschland von entscheidender Bedeutung.“Eine Neuwahl sei „kein wünschenswertes Szenario“. Die EU-Kommission hofft, dass der Einfluss der gescheiterten Gespräche auf die Europapolitik begrenzt bleibt, und will nicht über mögliche Folgen für den Reformprozess spekulieren. „Wir sind zuversichtlich, dass der verfassungsmäßige Prozess in Deutschland die Basis für Stabilität und Kontinuität sicherstellen wird“, betonte Chefsprecher Margaritis Schinas. Diese sei „ein Markenzeichen der deutschen Politik“und man hoffe, „dass es dieses Mal nicht anders sein wird“.