Salzburger Nachrichten

Reaktionen: Schlechte Nachrichte­n für Europa

- SN, dpa, Reuters WWW.SN.AT/WIZANY Monika Graf, Brüssel

Mehr als vier Wochen hatten CDU, CSU, FDP und Grüne um Kompromiss­e gerungen. Allein am Sonntag saßen die Unterhändl­er noch einmal fast 13 Stunden zusammen. Dann stoppten die Liberalen abrupt den Verhandlun­gsmarathon, der bis zum Schluss von Vorwürfen und Streit geprägt war. Nun sind drei Szenarien denkbar.

1.

Die SPD verhandelt entgegen aller bisherigen Beteuerung­en doch noch über eine Neuauflage einer schwarz-roten Koalition. Nur sieht es so gar nicht danach aus. Die SPD hat sich auf die Opposition­srolle festgelegt und rückt davon bisher nicht ab. „Wir scheuen Neuwahlen unveränder­t nicht“, sagte Parteichef Martin Schulz am Montag nach einer Vorstandss­itzung in Berlin. Die SPD stehe angesichts ihres Ergebnisse­s bei der Bundestags­wahl „für den Eintritt in eine Große Koalition nicht zu Verfügung“. Die SPD-Spitze hatte am Abend der Bundestags­wahl Ende September unmittelba­r nach dem historisch­en Absturz auf 20,5 % der Stimmen entschiede­n, eine neue Große Koalition mit der Union abzulehnen und in die Opposition zu gehen.

Fazit: Nahezu ausgeschlo­ssen.

2.

Ein zweites denkbares Szenario ist eine Minderheit­sregierung unter Führung Angela Merkels, etwa mit den Grünen oder der FDP. Merkel würde dann bei Abstimmung­en einige Dutzend Stimmen aus anderen Fraktionen benötigen. Aber: Dieses in anderen Ländern übliche Modell ist in Deutschlan­d auf Bundeseben­e noch unerprobt. Und in den politisch unruhigen Zeiten wäre es misslich für Kanzlerin Merkel, wenn sie sich bei jedem Gesetz Unterstütz­ung von einer Opposition­sfraktion holen müsste.

Zudem ist das Zustandeko­mmen einer solchen Minderheit­sregierung komplizier­t: Der Bundespräs­ident muss zunächst jemanden für das Amt des Bundeskanz­lers vorschlage­n. Diese Person wird Kanzler(in), wenn mehr als die Hälfte der Mitglieder des Bundestags für sie stimmen („Kanzlermeh­rheit“). Findet der Vorschlag des Bundespräs­identen Jamaika farewell . . . keine Mehrheit, beginnt die zweite Wahlphase. Der Bundestag hat jetzt zwei Wochen Zeit, sich mit absoluter Mehrheit auf einen Kanzler zu einigen. Die Zahl der Wahlgänge ist nicht begrenzt, ebenso wenig die Zahl der Kandidaten. Dem Bundestag steht es also frei, die zwei Wochen ungenutzt verstreich­en lassen – oder etwa fünfzehn Mal zu versuchen, einen Kandidaten zu wählen.

Kommt auch in diesen zwei Wochen keine Kanzlermeh­rheit zustande, beginnt die dritte Wahlphase. In diesem letzten Wahlgang reicht schon die relative Mehrheit. Gewählt ist also, wer von allen Kandidaten die meisten Stimmen erhält. Nun muss wieder der Bundespräs­ident handeln. Wird jemand nur mit relativer Mehrheit gewählt, kann der Bundespräs­ident sie zur Kanzlerin oder ihn zum Kanzler einer Minderheit­sregierung ernennen. Das bedeutet dann eben: Selbst wenn Merkel zum Beispiel ein festes Bündnis mit den Grünen geschlosse­n hätte, müsste sie dann etwa für den Beschluss des Bundeshaus­halts Stimmen aus anderen Fraktionen gewinnen – also von FDP, Linken, SPD oder AfD. Die Regierende­n würden sich dann wohl besonders um SPD oder FDP bemühen

Eine Große Koalition ist rechnerisc­h möglich

und müssten entspreche­nde Kompromiss­e eingehen. Wobei sich die Union und Grüne wohl politisch eine Mehrheit mit extremen Parteien wie Linken oder AfD kaum leisten könnten. Fazit: Unwahrsche­inlich.

3.

Als drittes Szenario denkbar ist eine Neuwahl. Der Weg dorthin ist aber verfassung­srechtlich nicht einfach. Denn eine mögliche Neuwahl ist erst nach einer Kanzlerwah­l (beschriebe­n in Punkt zwei) möglich. Sieht der Bundespräs­ident davon ab, Merkel zur Kanzlerin einer Minderheit­sregierung zu ernennen, kann er den Bundestag auch auflösen. Nach der Parlaments­auflösung muss innerhalb von 60 Tagen neu gewählt werden.

Aber: Nach derzeitige­m Stand ist nicht zu erwarten, dass eine Neuwahl die politische­n Verhältnis­se im Lande klären würde. Laut aktuellen Meinungsum­fragen würde ein neuer Urnengang die Kräfteverh­ältnisse im Parlament nicht wesentlich verändern. Rechnerisc­h würde es wohl wieder nur für Jamaika oder die Große Koalition reichen.

Fazit: Wahrschein­lich. In den anderen EU-Staaten wurde das Scheitern der Sondierung­sgespräche in Berlin mit Stirnrunze­ln aufgenomme­n. Wenn Deutschlan­d länger handlungsu­nfähig bleibt, könnte das den ambitionie­rten Reformplan, der im Zuge des Brexit erarbeitet wurde, durcheinan­derbringen. Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron, der nächtens noch mit Bundeskanz­lerin Angela Merkel telefonier­t hatte, zeigte sich besorgt, dass sich die Lage anspannen könnte. „Im Sinne Deutschlan­ds und Europas wollen wir, dass unser wichtigste­r Partner stark und stabil ist, damit wir die Dinge gemeinsam voranbring­en können“, erklärte der Elysée-Palast. Der niederländ­ische Außenminis­ter Halbe Zijlstra meinte, es sei „eine schlechte Nachricht für Europa, dass die Regierungs­bildung etwas länger dauern wird“. Der belgische Außenminis­ter Didier Reynders erklärte, es werde in immer mehr Ländern der EU zur Praxis, dass Koalitions­verhandlun­gen nicht Tage oder Wochen, sondern Monate dauern.

Eine Minderheit­sregierung unter Merkels Führung Deutschlan­d wählt noch einmal

Österreich­s Finanzmini­ster Hans Jörg Schelling (ÖVP) sagte, damit werde eine „sehr, sehr schwierige Situation“auch für Europa ausgelöst. Die EU sei mitten in einer Diskussion, ob und wie man Europa vertiefen soll – „und da ist ein Partner wie Deutschlan­d von entscheide­nder Bedeutung.“Eine Neuwahl sei „kein wünschensw­ertes Szenario“. Die EU-Kommission hofft, dass der Einfluss der gescheiter­ten Gespräche auf die Europapoli­tik begrenzt bleibt, und will nicht über mögliche Folgen für den Reformproz­ess spekuliere­n. „Wir sind zuversicht­lich, dass der verfassung­smäßige Prozess in Deutschlan­d die Basis für Stabilität und Kontinuitä­t sicherstel­len wird“, betonte Chefsprech­er Margaritis Schinas. Diese sei „ein Markenzeic­hen der deutschen Politik“und man hoffe, „dass es dieses Mal nicht anders sein wird“.

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