Wie Berührung sein soll
Wir brauchen eine neue Kultur gesunder bindungsfördernder Berührung. Beginnen wir mit einem respektvollen Wahrnehmen und Ernstnehmen der individuellen Grenzen und Sehnsüchte.
Durch die erfreulicherweise zunehmende öffentliche Aufmerksamkeit für – auch sexuelle – Übergriffe ist ein kaltes und kritisches Licht auf Körperkontakte im Allgemeinen gefallen. Körperliche Nähe ist suspekt geworden. Auf das Terrain der beiderseitig akzeptierten sexuellen Beziehungen zurückgedrängt, wird diese Nähe oft auch dort inzwischen schwierig. Selbst bei ärztlichen Untersuchungen finden kaum mehr körperliche Berührungen statt. Hygienevorschriften und technischer Fortschritt haben Distanz geschaffen. Distanz, die vor allen möglichen Imponderabilien schützen soll.
Über all diesen durchaus wünschenswerten Entwicklungen ist in den Hintergrund geraten, wie wichtig körperlicher Kontakt für die Regulation unseres vegetativen Nervensystems und damit für unser gesamtes Wohlbefinden, ja für unsere Gesundheit ist. Professionelle Berührungsexperten wie z. B. Masseurinnen und Masseure lindern die Not, wenn der Mangel dann doch endlich spürbar wird.
Es scheint sich also um eine komplizierte und heikle Angelegenheit zu handeln. Im Grunde wäre es aber ganz einfach, denn jeder Mensch hat schon ab der Geburt ein tiefes Wissen darüber, wie Berührungen sein sollen. Jedes gesunde Baby zeigt es ganz deutlich. Dieses ursprüngliche Wissen ist in uns allen noch vorhanden, auch wenn es oft tief verschüttet ist: zum einen durch zahlreiche störende Erfahrungen,
Nur wer sich selbst sicher fühlt, kann sich auf den körperlichen Dialog einlassen
die oft irreführend gute Erziehung genannt werden, zum anderen und vor allem durch das Nicht-Anerkennen der entsprechenden Abwehrreaktionen.
In den vergangenen Generationen sind Kulturleistungen im Vordergrund gestanden, die unbestreitbare Fortschritte ermöglicht haben. Viele unserer drängendsten heutigen Probleme aber brauchen andere, neue Lösungen. Wir brauchen eine neue Kultur gesunder bindungsfördernder Berührungen, damit ein heilsames, selbstverständliches Miteinander von Menschen wachsen kann. Am leichtesten könnten wir dort ansetzen, wo menschliches Leben beginnt, bei den werdenden und jungen Eltern. Nur wer sich selbst ausreichend gehalten und sicher fühlt, kann sich auf den körperlichen Dialog einlassen, der die Grundlage für gesunde Entwicklung bietet. In diese radikal subjektive und persönliche – und daher schwer messbare, aber umso deutlicher fühlbare – Sicherheit sollte unsere Gesellschaft investieren, damit wir bis ins hohe Alter, wo Berührung wieder oft das wichtigste Kommunikationsmittel wird, gut miteinander umgehen können.
Diese Sicherheit braucht keine Polizei und keine Überwachungskameras, sondern feinfühlige sprechende Berührungen und respektvolles Wahr- und Ernstnehmen der individuellen Grenzen und Sehnsüchte. In Frei- und Schutzräume zu investieren wie z. B. Papamonate, in denen sich eine berührende „Körperkultur“entwickeln kann, kann ungeahnte Ressourcen entstehen lassen – bei allen Beteiligten, wie Studien gezeigt haben. Es sind Ressourcen wie soziale Kompetenz, emotionale Balance und letztlich eine lebendige Gesellschaft, die sich den Herausforderungen der Zukunft nicht verschließen muss. Weder mit Mauern nach außen noch mit innerer Erstarrung.
Falls Sie demnächst einmal in Ihrer Hand einen Impuls spüren sollten, z. B. jemandem liebevoll über den Arm zu streichen, wunderbar! Nur ein – allerdings wichtiges – Wort noch dazu: Absolute Freiwilligkeit aller Beteiligten ist die Voraussetzung!