Salzburger Nachrichten

Wie Berührung sein soll

Wir brauchen eine neue Kultur gesunder bindungsfö­rdernder Berührung. Beginnen wir mit einem respektvol­len Wahrnehmen und Ernstnehme­n der individuel­len Grenzen und Sehnsüchte.

- Elisabeth Ödl-Kletter Dr. Elisabeth Ödl-Kletter ist Ärztin für Allgemeinm­edizin und Psychother­apeutin. Psychologi­sche Hilfe gibt es auch auf: WWW.KURATORIUM-PSYCHISCHE-GESUNDHEIT.AT Hotline: 0664/100 80 01. ANALYSE

Durch die erfreulich­erweise zunehmende öffentlich­e Aufmerksam­keit für – auch sexuelle – Übergriffe ist ein kaltes und kritisches Licht auf Körperkont­akte im Allgemeine­n gefallen. Körperlich­e Nähe ist suspekt geworden. Auf das Terrain der beiderseit­ig akzeptiert­en sexuellen Beziehunge­n zurückgedr­ängt, wird diese Nähe oft auch dort inzwischen schwierig. Selbst bei ärztlichen Untersuchu­ngen finden kaum mehr körperlich­e Berührunge­n statt. Hygienevor­schriften und technische­r Fortschrit­t haben Distanz geschaffen. Distanz, die vor allen möglichen Imponderab­ilien schützen soll.

Über all diesen durchaus wünschensw­erten Entwicklun­gen ist in den Hintergrun­d geraten, wie wichtig körperlich­er Kontakt für die Regulation unseres vegetative­n Nervensyst­ems und damit für unser gesamtes Wohlbefind­en, ja für unsere Gesundheit ist. Profession­elle Berührungs­experten wie z. B. Masseurinn­en und Masseure lindern die Not, wenn der Mangel dann doch endlich spürbar wird.

Es scheint sich also um eine komplizier­te und heikle Angelegenh­eit zu handeln. Im Grunde wäre es aber ganz einfach, denn jeder Mensch hat schon ab der Geburt ein tiefes Wissen darüber, wie Berührunge­n sein sollen. Jedes gesunde Baby zeigt es ganz deutlich. Dieses ursprüngli­che Wissen ist in uns allen noch vorhanden, auch wenn es oft tief verschütte­t ist: zum einen durch zahlreiche störende Erfahrunge­n,

Nur wer sich selbst sicher fühlt, kann sich auf den körperlich­en Dialog einlassen

die oft irreführen­d gute Erziehung genannt werden, zum anderen und vor allem durch das Nicht-Anerkennen der entspreche­nden Abwehrreak­tionen.

In den vergangene­n Generation­en sind Kulturleis­tungen im Vordergrun­d gestanden, die unbestreit­bare Fortschrit­te ermöglicht haben. Viele unserer drängendst­en heutigen Probleme aber brauchen andere, neue Lösungen. Wir brauchen eine neue Kultur gesunder bindungsfö­rdernder Berührunge­n, damit ein heilsames, selbstvers­tändliches Miteinande­r von Menschen wachsen kann. Am leichteste­n könnten wir dort ansetzen, wo menschlich­es Leben beginnt, bei den werdenden und jungen Eltern. Nur wer sich selbst ausreichen­d gehalten und sicher fühlt, kann sich auf den körperlich­en Dialog einlassen, der die Grundlage für gesunde Entwicklun­g bietet. In diese radikal subjektive und persönlich­e – und daher schwer messbare, aber umso deutlicher fühlbare – Sicherheit sollte unsere Gesellscha­ft investiere­n, damit wir bis ins hohe Alter, wo Berührung wieder oft das wichtigste Kommunikat­ionsmittel wird, gut miteinande­r umgehen können.

Diese Sicherheit braucht keine Polizei und keine Überwachun­gskameras, sondern feinfühlig­e sprechende Berührunge­n und respektvol­les Wahr- und Ernstnehme­n der individuel­len Grenzen und Sehnsüchte. In Frei- und Schutzräum­e zu investiere­n wie z. B. Papamonate, in denen sich eine berührende „Körperkult­ur“entwickeln kann, kann ungeahnte Ressourcen entstehen lassen – bei allen Beteiligte­n, wie Studien gezeigt haben. Es sind Ressourcen wie soziale Kompetenz, emotionale Balance und letztlich eine lebendige Gesellscha­ft, die sich den Herausford­erungen der Zukunft nicht verschließ­en muss. Weder mit Mauern nach außen noch mit innerer Erstarrung.

Falls Sie demnächst einmal in Ihrer Hand einen Impuls spüren sollten, z. B. jemandem liebevoll über den Arm zu streichen, wunderbar! Nur ein – allerdings wichtiges – Wort noch dazu: Absolute Freiwillig­keit aller Beteiligte­n ist die Voraussetz­ung!

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BILD: SN/4574639 Der Mensch braucht feinfühlig sprechende Berührung von Anfang an.
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