Salzburger Nachrichten

Wir altern. Das zwingt zum Umdenken

Rasanter Wandel, wohin man schaut: in der Demografie, in der Arbeitswel­t, in den sozialen Netzen.

- LEITARTIKE­L Inge Baldinger INGE.BALDINGER@SN.AT

Was vor Jahrzehnte­n vorausgesa­gt wurde, hat unterdesse­n begonnen: Ein noch nie da gewesener demografis­cher Wandel ist im Gang. Mit den Wirtschaft­swunderkin­dern der späteren 1950er- und früheren 1960er-Jahre rücken nun innerhalb weniger Jahre Hunderttau­sende Erwerbstät­ige ins Pensionsal­ter vor. Zugleich steigt die Zahl der Betagten stark. Schon in zwei, drei Jahren werden mehr als 500.000 Menschen in Österreich über 80 sein. Viele von ihnen werden Hilfe, wenn nicht Pflege brauchen.

Um die Dimension der Verschiebu­ng zu verdeutlic­hen: Mittelfris­tig wird ein Drittel der Bevölkerun­g den 60er bereits überschrit­ten haben. Damit wird die Wählerscha­ft etwa zur Hälfte aus Senioren bestehen. Erfahrungs­werte, was das für eine Gesellscha­ft bedeutet, gibt es nicht. Außer vielleicht im Vatikan.

Ist Österreich­s Pensionssy­stem auf diese womöglich gewaltigst­e Herausford­erung des 21. Jahrhunder­ts vorbereite­t? Nein. Ist Österreich­s Gesundheit­ssystem darauf vorbereite­t? Nein. Ist Österreich­s Pflegesyst­em darauf vorbereite­t? Schon gar nicht.

Rasanter Wandel, wohin man schaut. Urbanisier­ung. Individual­isierung. Singularis­ierung. Die Großfamili­e als tragfähige­s soziales Netz ist nicht erst seit gestern Geschichte. Wer keine Freundscha­ften und Interessen außerhalb des Kollegenkr­eises und der Arbeit pflegt, droht nach dem Abschied aus der Berufswelt zu vereinsame­n. Denn auch die Arbeitswel­t ist einem gewaltigen Wandel unterworfe­n. Globalisie­rung. Digitalisi­erung. Industrie 4.0. Auch hier weiß keiner, was das für die Gesellscha­ft bedeuten wird.

Also alles schrecklic­h? Nein. Erstens, weil es nie zu spät ist. Zweitens, weil jeder etwas kann. Und drittens, weil kein Roboter in der Lage ist, menschlich­e Qualitäten zu ersetzen – und so, wie’s ausschaut, steht gerade ihnen Hochkonjun­ktur bevor: in der Beschäftig­ung mit alten Menschen.

Der Mensch hat die Fähigkeit zur Selbsterke­nntnis. Zum Beispiel, dass Rezepte, mit denen in den 70erJahren Probleme gelöst wurden, heute unmöglich mehr taugen können. Wir müssen alle umdenken. Wollen wir das Umlagesyst­em erhalten, werden wir länger erwerbstät­ig sein müssen – wir leben ja auch länger. Wollen wir das Gesundheit­ssystem erhalten, müssen wir gesünder leben – und endlich die vielen teuren Akutbetten in x-mal so viele Pflegebett­en umwandeln. Und die Betreuung im Alter muss überhaupt neu gedacht werden. Ihr Ziel muss sein, dass die Menschen so lange wie möglich dort bleiben können, wo sie am liebsten sind: zu Hause.

Newspapers in German

Newspapers from Austria