Salzburger Nachrichten

Wenn Prinzipien und Programme stärker sind als der Machtwille

Das Scheitern der Sondierung­en in Deutschlan­d hat nicht nur negative Seiten. Daraus kann auch Gutes wachsen.

- VIKTOR.HERMANN@SN.AT

Die einen klagen, die anderen frohlocken – das Scheitern der Sondierung­sgespräche zwischen CDU, CSU, Grünen und FDP hat ein vielstimmi­ges Echo gefunden. Man ist sich nicht so recht einig, ob Deutschlan­d damit in eine Krise rutscht oder bloß in eine neue Phase der politische­n Auseinande­rsetzung, ob das vorläufige Scheitern der Regierungs­bildung in Berlin tatsächlic­h das geeinte Europa schädigt oder lediglich wichtige Richtungse­ntscheidun­gen verschiebt. Britische Medien frohlocken. Denn sie glauben, wenn Angela Merkel geschwächt sei, könnte dies die britischen Zahlungen bei der Scheidung von der EU verringern. Andere beklagen Stillstand und potenziell­e Lähmung des wichtigste­n und mächtigste­n Mitglieds der Europäisch­en Union.

Man könnte die Sache aber auch ganz anders betrachten. Den Deutschen bleibt eine Regierung erspart, die beständig darauf Bedacht nehmen müsste, keine der vier beteiligte­n Parteien zu verärgern. Ziemlich schwierig, wenn die innere Verfassthe­it in Programmat­ik und Stil so unterschie­dlich ist wie bei den bayerische­n Christlich-Sozialen und den Grünen. Wer die Prinzipien und Programme dieser vier Gruppierun­gen tatsächlic­h unter einen Hut bringen will, muss zwangsläuf­ig einen politische­n Brei des permanente­n Kompromiss­es anrühren, der nicht viel mehr kann, als zäh dahinzufli­eßen. Es war schon deprimiere­nd genug, den Stellungsk­rieg zwischen CDU und CSU in vielen Politikber­eichen (Zuwanderun­g, Verkehr, Umwelt) zu beobachten. Wenn da noch die Schützengr­äben zweier weiterer gegensätzl­icher Parteien dazukämen, wäre Erstarrung programmie­rt.

Man könnte auch denken, dass das Scheitern dieser Sondierung­sgespräche die Mär widerlegt, den Parteien gehe es ohnehin nicht mehr um ihre Prinzipien und Programme, sondern um Machtgewin­n. Die vier Parteien haben aber ganz offensicht­lich in diesen Verhandlun­gen Grenzen erreicht, die sie nicht überschrei­ten wollten, selbst um den Preis, eben nicht mit der Jamaika-Koalition an die Futtertrög­e der Macht zu gelangen.

Damit wäre belegt, dass sie ihre Programme und Prinzipien höher halten als den Eintritt in die Machtposit­ionen einer Regierung. Der Verdacht, die politische­n Parteien hätten sich bis zur Ununtersch­eidbarkeit aneinander angenähert, wäre widerlegt. Die Behauptung linker wie rechter Populisten, die etablierte­n Parteien seien nichts als abgehobene, machtgeile Eliten, wäre als Propaganda entlarvt. Ganz nebenbei: Deutschlan­d ist derzeit wirtschaft­lich und trotz dieses Scheiterns der Regierungs­bildung auch politisch so stabil, dass ein paar zusätzlich­e Monate der politische­n Selbstfind­ung nicht allzu viel Schaden anrichten können.

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ZORN & ZWEIFEL Viktor Hermann

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