Wenn Prinzipien und Programme stärker sind als der Machtwille
Das Scheitern der Sondierungen in Deutschland hat nicht nur negative Seiten. Daraus kann auch Gutes wachsen.
Die einen klagen, die anderen frohlocken – das Scheitern der Sondierungsgespräche zwischen CDU, CSU, Grünen und FDP hat ein vielstimmiges Echo gefunden. Man ist sich nicht so recht einig, ob Deutschland damit in eine Krise rutscht oder bloß in eine neue Phase der politischen Auseinandersetzung, ob das vorläufige Scheitern der Regierungsbildung in Berlin tatsächlich das geeinte Europa schädigt oder lediglich wichtige Richtungsentscheidungen verschiebt. Britische Medien frohlocken. Denn sie glauben, wenn Angela Merkel geschwächt sei, könnte dies die britischen Zahlungen bei der Scheidung von der EU verringern. Andere beklagen Stillstand und potenzielle Lähmung des wichtigsten und mächtigsten Mitglieds der Europäischen Union.
Man könnte die Sache aber auch ganz anders betrachten. Den Deutschen bleibt eine Regierung erspart, die beständig darauf Bedacht nehmen müsste, keine der vier beteiligten Parteien zu verärgern. Ziemlich schwierig, wenn die innere Verfasstheit in Programmatik und Stil so unterschiedlich ist wie bei den bayerischen Christlich-Sozialen und den Grünen. Wer die Prinzipien und Programme dieser vier Gruppierungen tatsächlich unter einen Hut bringen will, muss zwangsläufig einen politischen Brei des permanenten Kompromisses anrühren, der nicht viel mehr kann, als zäh dahinzufließen. Es war schon deprimierend genug, den Stellungskrieg zwischen CDU und CSU in vielen Politikbereichen (Zuwanderung, Verkehr, Umwelt) zu beobachten. Wenn da noch die Schützengräben zweier weiterer gegensätzlicher Parteien dazukämen, wäre Erstarrung programmiert.
Man könnte auch denken, dass das Scheitern dieser Sondierungsgespräche die Mär widerlegt, den Parteien gehe es ohnehin nicht mehr um ihre Prinzipien und Programme, sondern um Machtgewinn. Die vier Parteien haben aber ganz offensichtlich in diesen Verhandlungen Grenzen erreicht, die sie nicht überschreiten wollten, selbst um den Preis, eben nicht mit der Jamaika-Koalition an die Futtertröge der Macht zu gelangen.
Damit wäre belegt, dass sie ihre Programme und Prinzipien höher halten als den Eintritt in die Machtpositionen einer Regierung. Der Verdacht, die politischen Parteien hätten sich bis zur Ununterscheidbarkeit aneinander angenähert, wäre widerlegt. Die Behauptung linker wie rechter Populisten, die etablierten Parteien seien nichts als abgehobene, machtgeile Eliten, wäre als Propaganda entlarvt. Ganz nebenbei: Deutschland ist derzeit wirtschaftlich und trotz dieses Scheiterns der Regierungsbildung auch politisch so stabil, dass ein paar zusätzliche Monate der politischen Selbstfindung nicht allzu viel Schaden anrichten können.