Mladic schlägt die Stunde der Wahrheit
Ratko Mladic gilt als Hauptverantwortlicher für das Massaker von Srebrenica. Heute, Mittwoch, fällt das UNO-Tribunal das Urteil gegen ihn.
DEN HAAG. Nicht vom Befehl zum Massenmord, aber von einem Treffen unmittelbar davor gibt es eine Filmaufnahme: Am Nachmittag des 11. Juli 1995 empfängt General Ratko Mladic im Hotel Fortuna den Kommandanten der UNO-Blauhelme von Srebrenica, den niederländischen Oberstleutnant Thom Karremans. Zur Begrüßung brüllt Mladic los: „Spinnen Sie nicht rum! Haben Sie befohlen, auf meine Armee schießen zu lassen?“Der eingeschüchterte Niederländer fährt sich durchs Gesicht und antwortet kleinlaut: „Meine Soldaten sollten nur sich selbst verteidigen.“„Haben Sie Kinder?“, fragt Mladic barsch nach. „Ja, zwei“, antwortet brav der UNO-Kommandant. „Und wollen Sie sie wiedersehen?“„Ja, natürlich.“„Sehen Sie“, sagt Mladic und wechselt in die Pose mühsam gezügelter Erregung. „Die Kinder meiner getöteten Männer hätten ihren Vater auch gern wiedergesehen.“
Es war ein reiner Bluff; die toten Serben gab es nicht. Mladic versteht es, seine Auftritte effektvoll zu modulieren. Sein Talent, sich selbst als den ewig ungerecht Behandelten darzustellen, durchzieht seine ganze Karriere – von den Kontrollbesuchen aus Belgrad, die sich der 25jährige Hauptmann in der Kaserne im mazedonischen Kumanovo nicht gefallen lassen will, bis zu seinen letzten öffentlichen Auftritten 1996, als er sich als sauberer Krieger von windigen Politikern absetzt.
In Den Haag ist die Maske gefallen. Teilnahmslos, manchmal mit einem leicht spöttischen Lächeln, oft auch abwesend hat der heute 74Jährige das Geschehen im Gerichtssaal über sechseinhalb Jahre verfolgt. Jetzt fällt das Urteil.
An dem Spruch – lebenslänglich – zweifelt schon seit dem ersten Prozesstag kein Beobachter. Bluff, Einschüchterung, das sind vor den Fragen einer juristischen Maschinerie keine brauchbaren Mittel. Nur der eine oder andere Zeuge fällt noch auf die Mythen herein, mit denen der Oberbefehlshaber der bosnisch-serbischen Streitkräfte sich einst umgab. „Mladic“, sagt der serbische General Manojlo Milovanovic, „ist ein Adler mit dem Herzen einer Taube.“Je härter die Schale, desto weicher der Kern.
Den Rang des ehrlichen Raubeins besetzte Mladic am besten. „Haben Sie keine Angst“, rief er im Kampfanzug den muslimischen Frauen zu, streichelte die Köpfe der Kinder und ließ sich dabei filmen. „Niemand wird Ihnen etwas tun.“Die Busse standen schon bereit. „Frauen und Kinder zuerst“, sprach der General. Zwei Tage später begann das Massaker von Srebrenica, bei dem an die 8000 unbewaffnete muslimische Männer und Buben zwischen zwölf und 77 Jahren ermordet wurden – die meisten erschossen, vor offene Gruben gestellt, in die ihre Leichen gleich hineinfallen sollten.
Die Entscheidung zum Massaker von Srebrenica fiel laut Ermittlungen der Anklage zwischen Mladics zweitem und drittem Treffen mit den niederländischen Blauhelmen, spät in der Nacht auf den 12. Juli. Als am 14. Juli nahe der Stadt Zvornik die Liquidierungen begannen, weilte Mladic mit Ehefrau Bosa in Belgrad bei einer Hochzeit – ein billiges Alibi für einen Mann, dem seine Truppe über Jahre blind gefolgt war.
Die Verteidigung in Den Haag entschied sich gegen die große Pose: Befangenheitsanträge gegen Richter, immer wieder Anträge auf Verschiebung, auf Freilassung, längere Ruhepausen. Schon als Mladic nach mehrjährigem Versteck im Mai 2011 endlich verhaftet wurde, war er ein Wrack. Nach Schlaganfällen und einem Herzinfarkt erholte er sich erst im Gefängnis von Scheveningen wieder einigermaßen.
Mehr als ein Jahr verging, bis der erste von 377 Zeugen gehört wurde. Wochen brachte das Gericht mit einem serbischen Mediziner zu, der sein Gutachten über die Leichen in den Massengräbern ausbreitete: Die Todesursache sei „nicht zweifelsfrei erwiesen“. Es mangele an „erhaltenem Gewebe“– als ob eine Epidemie die Menschen dahingerafft haben könnte.
Der Anklage gelang es immerhin, die Mär vom rauen Soldaten mit dem weichen Herzen, der die Schwachen schützt und den Starken mutig die Stirn bietet, gründlich zu entzaubern. Mit Auslassungen über andere Politiker oder korrupte Zivilisten hatte sich Mladic beim Volke beliebt gemacht. Aber auch mit seiner Verachtung für die radikalen serbischen Freischärler, die zu Beginn des Krieges muslimische Dörfer plünderten und abbrannten. Die Zivilbevölkerung, sagte Mladic immer wieder, „steht unter meinem Schutz“. Aber Zeugen, auch serbische, entlarven das als Lüge: Wer Kriegsverbrechen beging, wurde unter Mladic befördert. Wer sie meldete, wurde degradiert.
Ein neues Licht hat der Prozess gegen Mladic auf die Fälle nicht geworfen. Ungeklärt lässt er auch die strategischen Motive für den Genozid von Srebrenica. Der Angeklagte schweigt, politische Zeugen wurden nur oberflächlich vernommen.
Das UNO-Tribunal steht im Verdacht, Weltgeschichte schreiben zu wollen, statt individuelle Schuld festzustellen. Dass die Verteidigung Berufung einlegen wird, gilt als sicher. Ob das Interesse an den Hintergründen des Geschehens noch einmal aufflammt, ist zweifelhaft.