Hier regiert Europas letzter Diktator
Präsident Alexander Lukaschenko macht sich bisweilen schon selbstironisch lustig über den ihm gegebenen Beinamen. Doch in Weißrussland herrscht er mit harter Hand.
MINSK. Der Flughafen von Minsk ist groß und glänzend. Aber nur wenige Passagiere sind dort zu sichten. Zwar erlaubt Weißrussland seit Februar 2017 auch EU-Bürgern die visumfreie Einreise, zumindest für fünf Tage; bis Ende 2018 soll diese Frist sogar auf zehn Tage erweitert werden. Das abgeschottete Land will sich etwas öffnen. Doch bisher bleibt der Andrang der Reisenden überschaubar.
Beim Verlassen des Airports bemerkt der Besucher auf der rechten Seite ausgediente Flugzeuge aus der Sowjetzeit, von der Tupolew bis zur Antonow. Auf der linken Seite der Grünanlage stehen Poster, die auf die Sehenswürdigkeiten Weißrusslands hinweisen. Ein Land, das sich wenig im Fokus des Interesses fühlt, will auf sich aufmerksam machen.
Eine gebührenpflichtige Autobahn führt ins Zentrum. Minsk, wo mit zwei Millionen Menschen ein Fünftel der weißrussischen Gesamtbevölkerung lebt, sucht mit Prachtboulevards sowjetischer Prägung zu imponieren. Plötzlich Straßensperren. Die Autokolonne von Präsident Alexander Lukaschenko braust durch die Metropole Minsk.
Willkommen in Weißrussland, wo „Europas letzter Diktator“regiert! Seit 1994 herrscht hier Lukaschenko mit harter Hand. Seine Autokratie hat dafür gesorgt, dass es keine relevante Opposition, keine freien Medien, überhaupt keine alternativen Stimmen zu diesem Präsidenten mehr gibt. Wortführer der Zivilgesellschaft sind entweder im Gefängnis oder im Ausland. Das Regime statuiert immer wieder Exempel, damit die Bürger genau wissen, was keinesfalls geht.
Dennoch scheint Lukaschenko Rückhalt in der Bevölkerung zu haben, vor allem bei der ländlichen Gesellschaft, bei den vielen Beschäftigten der Staatsbetriebe und bei den Pensionisten. Bernd Alexander Bayerl, Österreichs Botschafter in Minsk, verweist darauf, dass Lukaschenko rigoros gegen Korruption vorgehe und keinen Personenkult dulde. Natürlich sei auch ein Gewöhnungseffekt spürbar, berichtet der Diplomat; viele Leute seien mit diesem Präsidenten aufgewachsen. Aber die Leute könnten auf das Funktionieren des Staatswesens und auf die sozialen Leistungen der Obrigkeit vertrauen. Das Gesundheitswesen in Weißrussland sei gut – in der Ukraine hingegen katastrophal.
Die Menschen hätten Angst vor einem dramatischen Umbruch wie in der Ukraine. Sie wollten nicht, dass beim Übergang von Staatsvermögen in Privathand eine Oligarchie entstehe. Bei freien Wahlen würde deshalb Lukaschenkos Partei mit Abstand stärkste Kraft werde, sagt Bayerl; die zersplitterte Opposition würde sehr lang brauchen, um eine Alternative zum starken Mann in Weißrussland aufzubauen.
Man kann sich zur Stimmungslage im Lande auf der Straße umhören. Doch in Weißrusslands „democratura“, wie es im Volksmund heißt, sollten die Namen der Gesprächspartner besser nicht genannt werden. „Man ist schon zufrieden, wenn es ruhig ist – und nicht so unruhig wie in der Ukraine“, sagt etwa eine ehemalige Journalistin. Man lebe bescheiden, mit sicheren Einkommen und sicheren Pensionen. Man klage allerdings über bisweilen ähnlich hohe Preise wie in Westeuropa – bei durchschnittlichen Gehältern von etwa 300 Euro im Monat und nur halb so hohen Altersbezügen.
Offen beschreibt die Ex-Journalistin Weißrusslands enge Verbindung mit Russland. Es gebe keine wirkliche Grenze zwischen beiden Ländern, erläutert sie. Die Menschen sprächen Russisch da wie dort. Zwar seien Russisch wie Weißrussisch Staatssprache in ihrem Land; das Fernsehen strahle Sendungen zweisprachig aus. Aber in vielen Familien werde zu Hause vor allem Russisch gesprochen. „Viele Russen denken, dass Weißrussland ohnehin ein Teil Russlands sei. Sie sagen: Ihr habt nicht einmal eine eigene Sprache!“Der Einfluss der Russen in Weißrussland wachse weiter, stellt die inzwischen pensionierte Pressefrau fest. Viele hätten Land hier gekauft. Auch Fabriken und Immobilien in Minsk seien in ihrem Besitz.
Leonid Gulyako ist der Minister für Nationalitäten- und Religionsfragen. Er berichtet penibel über seinen Kompetenzbereich. Auf die weitergehende Frage, welche Bedeutung für Weißrussland das Verhältnis zur Europäischen Union habe, will er nicht antworten. Er könne aber gern einen Termin im Außenministerium dazu vereinbaren, fügt er hinzu. Gulyako erläutert als dafür zuständiger Minister, dass in Weißrussland gut 80 Prozent der Bevölkerung christlich-orthodoxen Glaubens und knapp 15 Prozent der Bürger katholisch seien. Es gebe im Zentrum Europas keinen Staat, sagt er, wo Orthodoxie und Katholizismus so sehr zusammenträfen.
Solche und ähnliche Stimmen hört man häufig in Weißrussland. Von einer schwierigen Zwischenlage zwischen Ost und West ist die Rede – aber auch davon, dass Weißrussland in Europa liege, Europa aber Weißrusslands friedensstiftendes Potenzial als Vermittler bisher nicht genügend genützt habe. Politische Beobachter halten freilich den Versuch, diesem Land eine solche Rolle zuzuschreiben, für eine Illusion. Weißrussland präsentiert sich zwar als „ehrlicher Makler“– etwa als Gastgeber von Konferenzen zum Ukraine-Konflikt in Minsk. Der sonst isolierte Präsident Lukaschenko zeigt sich dann im Kreis westeuropäischer Politiker. Aber Weißrussland ist tatsächlich ein enger Alliierter Russlands und äußerst abhängig von Moskau. Weißrussland fehlt zudem die Machtposition, um ernsthaft vermitteln zu können. Wegen des Sonderverhältnisses zu Moskau würde eine explizite Vermittlungsaktion zwischen der EU und dem Kremlreich Weißrussland unweigerlich in eine offen konfrontative Situation treiben, analysieren Experten. Die rote Linie für Weißrussland (Belarus) wäre ganz gewiss die militärische Bündnistreue zu Moskau.
Weißrussland muss auch deshalb extrem vorsichtig sein, weil laut der politischen Analyse des deutschen Osteuropa-Experten Stefan Meister der weißrussische und der russische Sicherheitsapparat eng miteinander verzahnt sind. Die Tatsache, dass Weißrusslands Geheimdienst unterwandert ist von Agenten des russischen Geheimdienstes FSB (früher KGB), lässt bei der politischen Führung ebenso wie in der Bevölkerung die zweifelnde Frage aufkommen, wie loyal der eigene Sicherheitsapparat überhaupt noch ist. Neuerdings gebe es auch in Weißrussland eine Debatte über russische Desinformation, über die sich bekanntlich bereits westeuropäische Staaten beschwerten, stellt Meister fest.
Selbst unter Präsident Lukaschenko, der ein Mann des alten Sowjetsystems ist, kommt jetzt ein Prozess der „Belarussifizierung“in Gang, der dazu dient, das Land von Russland abzugrenzen. Dazu gehört das Bemühen, die weißrussische Sprache und Identität zu betonen. Lange Zeit hat es für den Unterricht in Weißrussisch nicht einmal Lehrbücher gegeben. „Man hat Angst davor, von Russland aufgesaugt zu werden“, erläutert Stefan Meister. „Die Angst vor der Dominanz Russlands wächst auch in Weißrussland.“