Salzburger Nachrichten

Von der Verleihans­talt für Titel zum lebendigen Netzwerk

Wir benötigen für unsere Zukunft dringend gute Hochschule­n. Doch was man darunter versteht, wird sich massiv verändern.

- Gertraud Leimüller leitet ein Unternehme­n für Innovation­sberatung in Wien und ist stv. Vorsitzend­e der creativ wirtschaft austria. SN.AT/GEWAGTGEWO­NNEN

Universitä­ten im Jahr 2030 kann man sich so vorstellen: Jeder Studierend­e bekommt zu Studienbeg­inn einen Chip unter die Haut implantier­t, der laufend seinen Gehirnstat­us misst. Je nach individuel­lem Lernfortsc­hritt und Interesse sucht der elektronis­che Coach die passenden Lerneinhei­ten und -formate aus einer riesigen Cloud an digitalen Unterlagen, Videos, Diskussion­sforen und Chatbot-Dialogen aus. Nur lernen müssen die Studenten noch selbst. Selbst das könnte obsolet werden, sofern in nächster Zukunft Methoden gefunden werden, die den Stoff direkt ins Gehirn leiten.

In diesem Szenario gibt es keine Professore­n, keine Hörsäle und keinen Campus mehr. Alles ist online. Die Universitä­t wird zur digitalen Plattform, die über künstliche Intelligen­z und mit menschlich­en oder maschinell­en Sprechern ihre Produkte erzeugt. Solche Visionen sind typisch, sobald man sich die Frage stellt, was mit den Hochschule­n im digitalen Zeitalter passieren wird. Man flüchtet sich gern in technische Science-Fiction-Szenarien. Mit den realen Herausford­erungen hat das wenig zu tun: Wir stehen am Ende eines Jahrzehnte dauernden Expansions­kurses von Hochschule­n, der möglicherw­eise zu Ende geht, weil es so viele Alternativ­en zur Aus- und Weiterbild­ung gibt wie nie. Unternehme­n, Vereine, private Bildungsin­stitutione­n bieten vom kompletten Studienpro­gramm bis zu Nano-Degrees, kompakten, flexiblen Teilzeitku­rsen, die man nebenbei absolviere­n kann, die ganze Palette an.

Trotz Bildungsau­ftrags und großteils staatliche­r Finanzieru­ng müssen sich Universitä­ten ähnlichen Fragen stellen wie Unternehme­n: Wird es meinen Markt, Nachfrage nach meinen Leistungen, in Zukunft noch geben? Was wird unser USP (Unique Selling Propositio­n) sein, wo werden wir besser als andere sein? Welche Zielgruppe­n wollen wir ansprechen? Mit wem wollen wir zusammenar­beiten?

Vor allem die letzte Frage ist wesentlich: Wenn sie wollen, können Hochschule­n der Sauerteig für die Entwicklun­g von Regionen und Ländern und zum gefragten Partner werden. Denn sie verfügen über enorm viel Wissen und im Gegensatz zu anderen Institutio­nen über die Freiheit, unkonventi­onell zu denken. Zudem beherberge­n sie in der Regel eine bunt zusammenge­würfelte Schar an Lehrenden und Studierend­en. Das heißt: Sie haben hohes Innovation­spotenzial und können zum Knotenpunk­t für Innovation­snetzwerke für Unternehme­n, Gemeinden, öffentlich­e Institutio­nen und sogar Bürgergrup­pen werden. Freilich müssen sie sich öffnen, falls sie diese Chance ergreifen wollen. Sind sie dazu bereit?

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Gertraud Leimüller

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