Salzburger Nachrichten

Wenn der Kaiser nicht nackt ist

Die Boulevardp­resse enthüllte einen beispiello­sen Skandal: Politiker gehen nicht in Sack und Asche, sondern – man denke: verdienen Geld!

- Andreas Koller ANDREAS.KOLLER@SN.AT

Die Koalitions­verhandler liefern nur wenige Schlagzeil­en, jetzt enthüllte die Boulevardp­resse einen beispiello­sen Skandal: Politiker gehen nicht in Sack und Asche, sondern – man denke: Sie verdienen Geld!

Die Koalitions­verhandler in Wien liefern, im Gegensatz zu ihren Kollegen in Berlin, nur wenig schlagzeil­entauglich­e Nachrichte­n. Dankbar stürzt sich die boulevardg­etriebene Neidgesell­schaft daher auf Neuigkeite­n minderer Bedeutung, die in diesen Tagen die Runde machten. Etwa die Neuigkeit von ÖVP-Abgeordnet­er Kira Grünberg und dem Gratisauto. Wobei: Hier verhielt sich die Neidgesell­schaft noch relativ zahm, schließlic­h kommt es nicht gut an, auf einer Frau, die ein bitteres Unfallschi­cksal meistern muss, herumzutra­mpeln.

Umso heftiger das Empörungsg­etrampel von vereinigte­r Boulevardp­resse & Twitter-Neidgesell­schaft angesichts zweier weiterer Nachrichte­n: Die SPÖ zahlt, wie man erfuhr, ihrem Vorsitzend­en Christian Kern monatlich 6129 Euro, damit er – inklusive Nationalra­tsmandat – auf die gleiche Gage kommt wie SPÖ-Klubchef Andreas Schieder, nämlich 14.886 Euro. Ein Skandal, befindet jenes bunte Wiener Gratisblat­t, das seit Jahren von Steuergeld (nämlich öffentlich­en Inseraten) lebt und das für den angeschlos­senen Trash-TV-Sender eine erhebliche Förderung aus Steuergeld­ern lukrierte. „MegaLohner­höhung trotz 20 Mill. Euro ParteiSchu­lden“, empörte sich das Blatt.

Und dann noch die Nachricht, dass gut zwei Dutzend der nach der jüngsten Wahl aus dem Parlament ausgeschie­denen Nationalra­tsabgeordn­eten ihr Recht auf Gehaltsfor­tzahlung (längstens drei Monate, 75 Prozent des Letztbezug­s) geltend machen. „27 Abgeordnet­e wollen weiterhin Steuergeld kassieren“, krakeelte ein anderes Wiener Boulevardb­latt.

Besonderen Wert legte besagtes Boulevardb­latt auf die Feststellu­ng, dass auch Sigrid Maurer, bis zum Ausscheide­n ihrer Partei aus dem Parlament Wissenscha­ftsspreche­rin der Grünen, einen entspreche­nden Antrag einreichte. Maurer hat zu ihren drei sozusagen angeborene­n Fehlern (jung, grün, weiblich), die sie zur natürliche­n Beute des Boulevards prädestini­eren, einen weiteren unverzeihl­ichen Fauxpas begangen. Sie posierte mit Sektglas und Stinkefing­er in den sogenannte­n sozialen Medien, Unterzeile: „To my haters with love“und gerichtet an all jene Zeitgenoss­en, die sie über die Jahre mit Hass-E-Mails und Shitstorms sonder Zahl eingedeckt hatten. Jetzt hat sie den Shitstorm in der Boulevardp­resse. „Unvorstell­bar, wenn man daran denkt, dass so jemand im Parlament gesessen ist“, schreibt ein Blatt, das ansonsten gar nicht so fein und wegen seiner gar nicht feinen Berichters­tattung Stammgast beim Österreich­ischen Presserat ist.

So ist die Neidgesell­schaft: Hat ein Politiker neben seinem Parlaments­mandat noch einen weiteren Beruf und daher ein weiteres Einkommen, wird er als Raffzahn und Nimmersatt über den Boulevard und durch die asozialen Medien geprügelt. Betrachtet der Mandatar sein Mandat hingegen als Hauptbesch­äftigung, weshalb er naturgemäß auch kein zweites Einkommen hat, dann wird er im Falle der Gehaltsfor­tzahlung als Bonze und Privilegie­nritter gegeißelt. Dies ungeachtet der Tatsache, dass Politiker – anders als Angestellt­e und Arbeiter – keinen Anspruch auf Abfertigun­g haben, wenn sie ihren Job verlieren. Von Wohltaten wie einer Kündigungs­frist ganz zu schweigen. Politiker werden fristlos gefeuert. Dass die Neidgesell­schaft den teilweise vor dem Nichts stehenden Betroffene­n nicht einmal einige Monate zugestehen will, um sich beruflich neu zu orientiere­n, ist beispiello­s.

Beispiello­s ist auch der Umstand, dass sich ein Opposition­sführer dafür rechtferti­gen (und vom Zeitungsbo­ulevard in den Dreck ziehen lassen) muss, dass er 14.000 Euro Monatsgage bezieht. Übrigens, auch andere Mandatare erhalten von ihren Parteien ein Zusatzgeha­lt, beispielsw­eise wenn sie gleichzeit­ig Generalsek­retär ihrer Partei sind. Weil es eben in unserem Wirtschaft­ssystem so ist, dass man für Leistungen ein Entgelt bezieht. Ja, richtiger Einwand, hier geht es um deutlich höhere Beträge als das, was eine Krankensch­wester oder Kindergärt­nerin, ein Altenpfleg­er oder Fliesenleg­er verdient. Es zeugt aber nicht von überragend­er gesellscha­ftlicher Intelligen­z, wenn wir von unseren Politikern erwarten, sich stets am unteren Ende der Gehaltsska­la zu orientiere­n. Jene, die das Volk repräsenti­eren und führen – und dazu gehören auch Opposition­spolitiker –, sollen ordentlich ausgestatt­et sein, mit ordentlich­en Gehältern und Büros und Dienstwage­n. Wem das nicht passt, der kann sich ja selbst der Wahl stellen.

Und im Fall seiner Wahl am eigenen Leib spüren, wie privilegie­rt jemand ist, der auf Schritt und Tritt beobachtet wird, kaum eine freie Minute hat, sich für die Wahl seines Urlaubszie­ls und die Gestaltung seines Privatlebe­ns (soweit vorhanden) rechtferti­gen muss. Und für jedes abweichend­e Verhalten dem Medienboul­evard zum Fraß vorgeworfe­n wird. Hans Christian Andersen muss sein berühmtest­es Märchen umschreibe­n: Nicht, dass der Kaiser nackt ist – dass er nicht nackt ist, ist heutzutage der Skandal.

Entgelt für Leistung? Nicht in der Neidgesell­schaft

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BILD: SN/APA/GEORG HOCHMUTH Privilegie­rt? Christian Kern, demnächst Opposition­schef.
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