Wenn der Kaiser nicht nackt ist
Die Boulevardpresse enthüllte einen beispiellosen Skandal: Politiker gehen nicht in Sack und Asche, sondern – man denke: verdienen Geld!
Die Koalitionsverhandler liefern nur wenige Schlagzeilen, jetzt enthüllte die Boulevardpresse einen beispiellosen Skandal: Politiker gehen nicht in Sack und Asche, sondern – man denke: Sie verdienen Geld!
Die Koalitionsverhandler in Wien liefern, im Gegensatz zu ihren Kollegen in Berlin, nur wenig schlagzeilentaugliche Nachrichten. Dankbar stürzt sich die boulevardgetriebene Neidgesellschaft daher auf Neuigkeiten minderer Bedeutung, die in diesen Tagen die Runde machten. Etwa die Neuigkeit von ÖVP-Abgeordneter Kira Grünberg und dem Gratisauto. Wobei: Hier verhielt sich die Neidgesellschaft noch relativ zahm, schließlich kommt es nicht gut an, auf einer Frau, die ein bitteres Unfallschicksal meistern muss, herumzutrampeln.
Umso heftiger das Empörungsgetrampel von vereinigter Boulevardpresse & Twitter-Neidgesellschaft angesichts zweier weiterer Nachrichten: Die SPÖ zahlt, wie man erfuhr, ihrem Vorsitzenden Christian Kern monatlich 6129 Euro, damit er – inklusive Nationalratsmandat – auf die gleiche Gage kommt wie SPÖ-Klubchef Andreas Schieder, nämlich 14.886 Euro. Ein Skandal, befindet jenes bunte Wiener Gratisblatt, das seit Jahren von Steuergeld (nämlich öffentlichen Inseraten) lebt und das für den angeschlossenen Trash-TV-Sender eine erhebliche Förderung aus Steuergeldern lukrierte. „MegaLohnerhöhung trotz 20 Mill. Euro ParteiSchulden“, empörte sich das Blatt.
Und dann noch die Nachricht, dass gut zwei Dutzend der nach der jüngsten Wahl aus dem Parlament ausgeschiedenen Nationalratsabgeordneten ihr Recht auf Gehaltsfortzahlung (längstens drei Monate, 75 Prozent des Letztbezugs) geltend machen. „27 Abgeordnete wollen weiterhin Steuergeld kassieren“, krakeelte ein anderes Wiener Boulevardblatt.
Besonderen Wert legte besagtes Boulevardblatt auf die Feststellung, dass auch Sigrid Maurer, bis zum Ausscheiden ihrer Partei aus dem Parlament Wissenschaftssprecherin der Grünen, einen entsprechenden Antrag einreichte. Maurer hat zu ihren drei sozusagen angeborenen Fehlern (jung, grün, weiblich), die sie zur natürlichen Beute des Boulevards prädestinieren, einen weiteren unverzeihlichen Fauxpas begangen. Sie posierte mit Sektglas und Stinkefinger in den sogenannten sozialen Medien, Unterzeile: „To my haters with love“und gerichtet an all jene Zeitgenossen, die sie über die Jahre mit Hass-E-Mails und Shitstorms sonder Zahl eingedeckt hatten. Jetzt hat sie den Shitstorm in der Boulevardpresse. „Unvorstellbar, wenn man daran denkt, dass so jemand im Parlament gesessen ist“, schreibt ein Blatt, das ansonsten gar nicht so fein und wegen seiner gar nicht feinen Berichterstattung Stammgast beim Österreichischen Presserat ist.
So ist die Neidgesellschaft: Hat ein Politiker neben seinem Parlamentsmandat noch einen weiteren Beruf und daher ein weiteres Einkommen, wird er als Raffzahn und Nimmersatt über den Boulevard und durch die asozialen Medien geprügelt. Betrachtet der Mandatar sein Mandat hingegen als Hauptbeschäftigung, weshalb er naturgemäß auch kein zweites Einkommen hat, dann wird er im Falle der Gehaltsfortzahlung als Bonze und Privilegienritter gegeißelt. Dies ungeachtet der Tatsache, dass Politiker – anders als Angestellte und Arbeiter – keinen Anspruch auf Abfertigung haben, wenn sie ihren Job verlieren. Von Wohltaten wie einer Kündigungsfrist ganz zu schweigen. Politiker werden fristlos gefeuert. Dass die Neidgesellschaft den teilweise vor dem Nichts stehenden Betroffenen nicht einmal einige Monate zugestehen will, um sich beruflich neu zu orientieren, ist beispiellos.
Beispiellos ist auch der Umstand, dass sich ein Oppositionsführer dafür rechtfertigen (und vom Zeitungsboulevard in den Dreck ziehen lassen) muss, dass er 14.000 Euro Monatsgage bezieht. Übrigens, auch andere Mandatare erhalten von ihren Parteien ein Zusatzgehalt, beispielsweise wenn sie gleichzeitig Generalsekretär ihrer Partei sind. Weil es eben in unserem Wirtschaftssystem so ist, dass man für Leistungen ein Entgelt bezieht. Ja, richtiger Einwand, hier geht es um deutlich höhere Beträge als das, was eine Krankenschwester oder Kindergärtnerin, ein Altenpfleger oder Fliesenleger verdient. Es zeugt aber nicht von überragender gesellschaftlicher Intelligenz, wenn wir von unseren Politikern erwarten, sich stets am unteren Ende der Gehaltsskala zu orientieren. Jene, die das Volk repräsentieren und führen – und dazu gehören auch Oppositionspolitiker –, sollen ordentlich ausgestattet sein, mit ordentlichen Gehältern und Büros und Dienstwagen. Wem das nicht passt, der kann sich ja selbst der Wahl stellen.
Und im Fall seiner Wahl am eigenen Leib spüren, wie privilegiert jemand ist, der auf Schritt und Tritt beobachtet wird, kaum eine freie Minute hat, sich für die Wahl seines Urlaubsziels und die Gestaltung seines Privatlebens (soweit vorhanden) rechtfertigen muss. Und für jedes abweichende Verhalten dem Medienboulevard zum Fraß vorgeworfen wird. Hans Christian Andersen muss sein berühmtestes Märchen umschreiben: Nicht, dass der Kaiser nackt ist – dass er nicht nackt ist, ist heutzutage der Skandal.
Entgelt für Leistung? Nicht in der Neidgesellschaft