Salzburger Nachrichten

Präsident Erdo˘gan entdeckt Republiksg­ründer Atatürk

Der türkische Staatschef geht mit Blick auf das große Wahljahr 2019 im Lager der Kemalisten auf Stimmenfan­g.

- SN, n-ost

Auf Mustafa Kemal, den Gründer der modernen Türkei, war Präsident Recep Tayyip Erdoğan bisher nicht gut zu sprechen. Nicht einmal den offizielle­n Nachnamen Atatürk, „Vater der Türken“, den die türkische Nationalve­rsammlung dem Republiksg­ründer 1934 gegeben hatte, nahm er gern in den Mund. Erdoğan und seine islamisch-konservati­ve Partei AKP gelten als Gegenentwu­rf zu Atatürk und seinen Reformen, wie insbesonde­re der Trennung von Staat und Religion, der Gleichbere­chtigung von Mann und Frau und der Westorient­ierung der Türkei.

Noch ist der Staatsgrün­der allgegenwä­rtig – mit Büsten auf jedem Schulhof, Standbilde­rn in jeder Stadt und Porträts in allen Amtsstuben und Fabrikhall­en. Aber Atatürk bekam in den vergangene­n Jahren zunehmend Konkurrenz: Die AKP pflegt den Erdoğan-Personenku­lt. Doch gerade als es schien, Erdoğan wolle sich selbst zum neuen Vater der Nation aufschwing­en, ergeht sich der Präsident in Lobpreisun­gen des Staatsgrün­ders: „Ewigen Respekt“schulde das Volk Atatürk, erklärte Erdoğan jetzt zum 79. Todestag des Nationalhe­lden, der „einen besonders wertvollen Platz im Herzen der Nation“einnehme.

Die Elogen klingen überrasche­nd aus dem Mund Erdoğans. Sie sind aber nicht Ausdruck einer neu entdeckten Zuneigung, sondern offenkundi­g kühles politische­s Kalkül. Die Wiederentd­eckung Atatürks durch Erdoğan begann mit dem Putschvers­uch vom Juli 2016. Der Umsturz wurde zwar binnen weniger Stunden niedergesc­hlagen, aber er hat Erdoğans Regime in den Grundfeste­n erschütter­t – abzulesen am ungeheuren Ausmaß der bis heute andauernde­n „Säuberunge­n“. Parallel zur gnadenlose­n Verfolgung seiner Kritiker versucht Erdoğan, seine Machtbasis in der Bevölkerun­g zu erweitern.

Es war kein Zufall, dass am Tag nach dem Putschvers­uch ein riesiges Plakat an der Fassade der AKPParteiz­entrale in Ankara angebracht wurde. Es zeigte nicht etwa Erdoğan – sondern Atatürk. Teil dieser Strategie war auch Erdoğans Öffnung zu den Ultra-Nationalis­ten vor dem Verfassung­sreferendu­m vom April 2017. Dennoch konnte Erdoğan sein Präsidials­ystem, das ihm fast unumschrän­kte Macht verschaffe­n soll, nur mit knapper Mehrheit durchbring­en. In 17 der 30 größten Städte überwogen die Nein-Stimmen. Diese Städte muss Erdoğan zurückerob­ern, wenn er bei den Kommunal-, Parlaments­und Präsidents­chaftswahl­en 2019 seine Macht verteidige­n will.

Die Weichen dafür müssten 2018 gestellt werden, heißt es in einem internen Strategiep­apier der Regierungs­partei AKP. Nach der Annäherung an die Ultra-Nationalis­ten versucht Erdoğan jetzt, im Revier der Kemalisten zu wildern. Dazu gehört, dass er die Opposition­spartei CHP, die auf Atatürk zurückgeht und sich als Bewahrer seiner Ideologie versteht, nun besonders heftig attackiert: Man dürfe Atatürks Erbe nicht jenen überlassen, „die in ihrer Rhetorik marxistisc­h und in ihrem Herzen faschistis­ch sind“, sagt Erdoğan giftig. Die Angriffe auf die CHP und die Lobeshymne­n auf Atatürk zeigen: Erdoğan weiß, dass er jede Stimme braucht.

Mit der Wiederwahl zum Präsidente­n im November 2019 will er in Personalun­ion auch das Amt des Premiers übernehmen. Darin liegt die besondere Bedeutung des bevorstehe­nden Urnengangs.

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