Der schlafende Riese erwacht
Am Wochenende gastiert der Skisprung-Weltcup in Nischni Tagil. Der Ort am Ural hat gleich in mehrfacher Hinsicht Symbolcharakter für den gesamten russischen Wintersport.
Mit der Anreise nach Nischni Tagil war am Donnerstag für den Skispringertross eine der beschwerlichsten Anreisen der Saison abgehakt. Viele Athleten waren auf dem Weg in die Stadt am mittleren Ural über 15 Stunden unterwegs. Da ließ sich sogar der ÖSV-Superadler Stefan Kraft am Flughafen des Skisprungorts zur Äußerung hinreißen: „Noch einmal brauche ich das heute nicht.“Der Pongauer hatte nämlich auch bange Minuten zu bewältigen, als er bei der Anreise mit dem Auto in den Donnerstagmorgenstunden rund um Salzburg in ein Schneechaos geriet, das einen punktgenauen Abflug zum Fünfstunden-Flug in München fast verhinderte.
Nischni Tagil, gut zwei Autostunden auf teils unwirtlichen Straßen nördlich von der Metropole Jekaterinburg entfernt gelegen, soll für den Wintersport Russlands künftig Symbolkraft haben. Das zumindest will der Internationale Skiverband FIS aus der Stadt mit fast 370.000 Einwohnern machen.
Ein positiver Akzent für eine Wintersport-Nation, die zuletzt nicht nur wegen mutmaßlichen staatlich gesteuerten Dopings in die negativen Schlagzeilen geraten ist.
„Russland ist ein schlafender Riese, der am Erwachen ist“, meint der FIS-Renndirektor der Skispringer, Walter Hofer. Russland soll bald die kommende Skisprung-Nation sein und von Nischni Tagil aus soll es beginnen. Richard Oberndorfer berichtet für die SN aus Nischni Tagil „Alles ist vorbereitet, wir warten nur noch auf einen russischen Skispringer, dann ist eine Euphorie perfekt“, sagt Hofer, der seit 1992 für die Skispringer verantwortlich ist und immer wieder – trotz vieler Widerstände – neue Akzente vor allem in den Oststaaten setzt. Hofer: „Die Aufmerksamkeit in Russland wäre bei entsprechenden Erfolgen gigantisch.“Richten soll es der frühere nordische Kombinierer Evgeniy Klimov, der laut Experten großes Potenzial hat. Zeitnah soll eine olympische Medaille her. Am besten in Gold, wie 1968 in Grenoble, als Wladimir Beloussow von der Großschanze triumphierte.
Und Russland braucht die Wintersportstars im eigenen Land. Die Vorzeigeathleten in den wichtigsten Sportarten Eishockey, Eiskunstlauf, Tennis und Fußball verlassen gern das Land. Verdienen ihre Dollars zumeist in Nordamerika. Einer, dem sie bei örtlichen Veranstaltungen wie in Nischni Tagil zujubeln können, fehlt (noch). „Bei einem russischen Erfolgsspringer würden Scharen von Fans zu anderen Stationen mitreisen“, prognostiziert der Wahlsalzburger Hofer. Ähnlich wie es Anfang des Jahrtausends in Polen rund um Adam Małysz gewesen sei und heute um Sympathieträger Kamil Stoch.
Nischni Tagil hat Potenzial zum Ort für Wintersport-Strahlkraft. Jene Stadt, die durch die weltgrößte Panzerproduktion im Zweiten Weltkrieg traurige historische Bedeutung erlangt hatte, ist immer ein guter Boden für Sportler gewesen. Die Stadt am Fluss Tagil hat Eishockeyspieler, Langläufer, Fußballer, Boxer, sogar einen Baseballspieler (Victor Starffin) hervorgebracht. Aber auch Skispringer wie aktuell Wadim Schischkin oder vormals Stanislaw Pochilko. „Wintersport hat hier Tradition“, weiß Hofer.
Zum dritten Mal gastierte am Freitag mit der Qualifikation der Skisprung-Weltcup in Nischni Tagil. Nach Sotschi und Tschaikowski der dritte Austragungsort im „Reich des russischen Bären“. Stellt sich natürlich die Frage, ob denn Russlands Präsident Wladimir Putin, ein ausgewiesener Sportfan, auch hinter der Entwicklung im Skispringen stehen würde?
Ist eine mögliche Zukunft also von Putins Gnaden möglich? „Auf jeden Fall. Präsident Putin steht dazu.“Dazu wurde – wie in anderen Sportarten üblich – ein regimetreuer Oligarch als eine Art Schirmherr abgestellt. Für den russischen Skiverband ist es der Milliardär Dmitry Pumpyansky, der von Jekaterinburg aus mit der Produktion von Stahlröhren für Züge 1,38 Milliarden Dollar Vermögen angehäuft hat. Damit ist Pumpyansky die Nummer 58 der reichsten Russen.
2021 soll dann im russischen Wintersport der nächste große Wurf folgen. FIS-Renndirektor Hofer lässt auf der Insel Sachalin springen. Am Ende der Welt, unweit von Japan und nahe des „Archipel Gulag“, jenes grausamen Strafgefangenen-Lagers, das durch den sowjetischen Dissidenten Alexander Solschenizyn als „Lagerhölle“1973 literarisch weltberühmt wurde.
Kraft und Co. werden ob der 12-stündigen Flugreise schon jetzt die Augen verdrehen. Aber bis dahin sind vier Jahre Zeit. Das „Jetzt“heißt Nischni Tagil.