Wenn das Familiengefüge schimmelt
In einem preisgekrönten Dokumentarfilm blickt die Salzburger Filmemacherin Ivette Löcker hinter die Fassaden familiärer Beziehungen.
Am Anfang steht das Haus. Die Eltern der Dokumentarfilmerin Ivette Löcker wollen ihren Töchtern das Haus überschreiben, in dem sie leben. Die Erbschaft soll geklärt sein. Aber dieses Haus ist speziell: Oben lebt Mama, und Papa hat sich im Keller eine Wohnung eingerichtet. In ihrem Film „Was uns bindet“geht Löcker diesem Arrangement auf den Grund: Warum leben die Eltern getrennt und doch zusammen? Was ist es, das Löcker und ihre Schwestern an diesen Ort bindet? Und warum betreffen die Antworten darauf fast alle Menschen, die Eltern haben?
Bei der Diagonale wurde die Salzburger Filmemacherin mit dem Preis für den besten Dokumentarfilm ausgezeichnet. Jetzt ist der Film im Kino zu sehen. SN: Ihre bisherigen Dokumentarfilme hatten unterschiedliche Themen, hier sind Sie bei Ihrer eigenen Familiengeschichte angekommen. Wie ist es dazu gekommen? Ivette Löcker: Es war wichtig, vorher Filme gemacht zu haben, die nicht mit meiner persönlichen Geschichte zu tun haben. Diesmal war es ein Risiko, und zu Beginn wusste ich nicht genau, worauf ich mich einlasse. Mich haben gewisse Fragen immer wieder beschäftigt: Warum lebe ich so weit weg von meinen Eltern, warum hab ich so ambivalente Gefühle, wenn ich heimfahr, warum stresst mich das, wenn meine Eltern fragen, wann ich das nächste Mal komme? Diese Fragen, gemischt mit dem schlechten Gewissen, dass man so weit weg wohnt und sich nicht richtig kümmern kann, wenn es den Eltern einmal schlecht geht, das hat mich schon lange beschäftigt. Als dann die Entscheidung mit der Hausübergabe kam, hab ich mir gedacht: Das betrifft viele andere Familien auch, vor allem auf dem Land. Und da könnte meine Familie vielleicht etwas repräsentieren. SN: Vieles Alltägliche in Ihrem Film bekommt symbolische Wucht, etwa jene Szene, in der hinter einer Holzverschalung die verschimmelte Wand zum Vorschein kommt: Die Fassade stimmt, aber dahinter bröckelt es. Ja, das war gutes Timing. In der Vorbereitung zu einem solchen Film überlegt man sich schon, wie dahinterliegende Ideen zu vermitteln sind, die ich nicht einfach abbilden kann. Und da war es aufg’legt, den Zusammenhang herzustellen zwischen verschimmeltem Gebäude und sanierungsbedürftigem Familiengefüge.
Das ist ja das Schöne am Dokumentarfilmemachen, dass einem solche Dinge so zufallen. Dass der Baumeister dann sagt: „Halbherzigkeit ist nix, weder in einer Beziehung noch beim Sanieren“, das ist natürlich großartig. Ich halte für Dokumentarfilme generell wichtig, mir schon vorher über die universellen Themen klar zu werden, damit viele daran andocken können. Auch wenn unsere Familie spezifische Probleme hat, will ich das so universell zeigen, dass auch andere zum Nachdenken über eigene Familien kommen können. SN: Die Konstellation Ihrer Eltern – sie lebt oben, er hat sich im Keller eingerichtet – wirkt nur im ersten Moment ungewöhnlich. Stimmt der Eindruck, dass halb vollzogene Trennungen nicht selten sind? Ich hab das immer als ungewöhnlich empfunden, aber diese Art von Arrangement ist viel verbreiteter, als man gemeinhin denkt. Besonders in Vorführungen auf dem Land in Salzburg haben mir Leute oft gesagt: „Bei uns ist das auch so.“Wenn es ein großes Haus gibt, aber die finanziellen Möglichkeiten nicht erlauben, dass beide sich eine eigene Wohnung nehmen, ist so etwas eine Möglichkeit. Meine Eltern hängen beide sehr an dem Haus, sie haben es unter großen Mühen gebaut und sind nicht bereit, es zu verlassen. Vielleicht sind sie auch nicht bereit, es dem jeweils anderen zu überlassen. Und dann ist da auch die Frage „Was sagen die Nachbarn?“. Sich scheiden lassen ist halt doch so ein öffentliches Sich-Eingestehen, dass man doch gescheitert ist. SN: Der Film reizt dazu, Ihnen von der eigenen Familie zu erzählen. Passiert Ihnen das jetzt oft? Ja, der Film löst das aus. Ich finde das super, dass die Leute danach zu mir kommen und sagen: „Deine Eltern haben mich an meine erinnert“, oder: „Meine Oma war genau so.“Dass da die Bereitschaft besteht, über etwas zu reden, über das man sonst mit Wildfremden eher nicht spricht, find ich spannend. Das war auch bei der Vorführung in Tamsweg so, die mir am meisten Herzklopfen verursacht hat, weil ich dort in die Schule gegangen bin. Da sind auch viele aus dem Lungau gekommen, die meine Eltern kennen. Auch dort ist der Film sehr gut angekommen und die Leute haben sich danach angeregt unterhalten und Geschichten erzählt. SN: Sie haben dreieinhalb Jahre an „Was uns bindet“gearbeitet, es sind einige unvorhersehbare Dinge passiert. Ist es dennoch der Film geworden, den Sie sich vorgestellt haben? Ja, in der Aussage ist der Film das geworden, was ich mir gewünscht habe, vielleicht sogar schonungsloser, als ich das geahnt habe. Es hat eine Zeit gebraucht, mir einzugestehen, dass mich die Beziehung zu meinen Eltern am meisten beschäftigt, und das Dilemma, das man als Tochter da hat. Am Anfang wollte ich noch einen Film über den ganzen Lungau drehen, da hab ich die Annäherung an die Eltern noch über die Heimat versucht. Aber eigentlich ist das, was mich noch an den Lungau bindet, nicht die Landschaft oder die Berge, auch wenn ich gern dort bin. Was mich bindet, das sind nun einmal die Eltern, und darüber musste ich einen Film machen.
Zur Person: Ivette Löcker wuchs in St. Michael im Lungau auf. Nach dem Studium in Wien wirkte sie erst als Produktionsleiterin und Regieassistentin. Seit 2006 dreht sie Dokus unter eigener Regie. Sie lebt in Berlin.
Film: Was uns bindet. Dokumentarfilm, Österreich 2017. Regie: Ivette Löcker. Derzeit im Kino.