Sie ist ein Star der ganz neuen Art
Die kanadische „Nachtigall der Avantgarde“, Barbara Hannigan, definiert Singen, Dirigieren, Spielen nach eigenen Gesetzen.
Wer sie erlebt hat, vor gut fünf Jahren in Brüssel, wie sie in Krzysztof Warlikowskis ingeniöser Inszenierung von Alban Bergs Oper „Lulu“fast den ganzen Abend im Tutu auf klassischer Spitze durchtanzte, dabei das seltsame Wesen Lulu in einen körperlichen und vokalen Schwebezustand versetzte, der eine nie gesehene Durchsichtigkeit gewann, wird seitdem Lulu nicht mehr anders sehen wollen. Obwohl sie selbst, fünf Jahre später, in der kürzlich zur Opernaufführung des Jahres gekürten Hamburger Inszenierung von Christoph Marthaler schon wieder ein ganz anderes, aber um nichts weniger energiereiches Wesen gewesen sein muss.
Pure Energie, immer in Bewegung, immer voll aufgehend im Drang nach dem Neuen, Unerforschten, Unentdeckten: Das macht den „Wundersopran“Barbara Hannigan zu einem Weltstar ganz eigener Kategorie. Gut 80 Uraufführungen, von denen die meisten ihr in die Kehle und auf den biegsam-zierlichen Leib geschrieben wurden, hat sie gesungen, die Klassiker der Moderne, von Alban Berg über Bernd Alois Zimmermanns „Soldaten“-Marie bis zu György Ligeti und Pierre Boulez, gehören wie angegossen zur DNA dieser 1971 in Nova Scotia geborenen kanadischen „Diva der Avantgarde“, die keine Grenzen kennt.
Mit ihrem Zwillingsbruder habe sie, so heißt es, schon im Kindesalter eine Geheimsprache erfunden. Und als Fünfjährige hat sie gewusst, dass sie Sängerin wird, mit 17 zieht sie nach Toronto, um Gesang zu studieren, macht alsbald Furore mit ihrer glitzernden, flirrenden, girrenden, vibrierenden Nachtigallenstimme, die zu jeder klanglichen Äußerung fähig ist. Sie kann alles, durchlebt alles, was sie macht, als würde es in genau diesem Moment geschaffen.
Es gibt tolle YouTube-Videos mit ihren Glanznummern, beispielsweise als Girlie wie aus einem „Schulmädchen“-Report in Ligetis aberwitzigen „Mysteries of the Macabre“, wenn sie sich ihres Kaugummis lasziv-lässig entledigt, ehe sie loszischt, ihn Simon Rattle in die Hand drückt, der das Ding dann einfach unters Dirigentenpult pickt. Natürlich macht sie auch, für Ligetis akrobatische Exaltationen, im Lackmini hinreißende Figur.
Barbara Hannigan kann man sich gar nicht ohne Aktion vorstellen. Und so reüssiert sie auch mehr und mehr – und an der Spitze wichtiger Orchester – als Dirigentin. Und dabei singt sie auch noch vom Pult aus – sogar Mozart-Arien. Die Performances, die Barbara Hannigan gibt, erfassen Musik ganzheitlich, ihre Programme gehorchen keinem eingefahrenen Schema, sondern sind durchkomponierte Gesamtkunstwerke sozusagen vom Scheitel bis zur Sohle.
Das übersetzt sich sogar nur auf der „Hörbühne“. Auf ihrem Album „Crazy Girl Crazy“mit einem vorzüglichen Projektorchester, das sich nach Beethoven „Ludwig“nennt, verbindet sich Berios Solosopran-„Sequenza III“bruchlos mit Bergs „LuluSuite“und dem eigens arrangierten Medley aus „Girl Crazy“von George Gershwin zu einem großartigen, sich ineinander spiegelnden Gesangs-, Sprech-, Luftund Klangakt von singulärer Präsenz. Dazu kommt Mathieu Amalrics Hannigan-Filmporträt „Music is Music“. Genau das ist es: Musik ist Musik. Nicht weniger, aber unendlich viel mehr: „Klassik“in neuer Dimension. Konzert: CD/DVD: