Zum 100. Geburtstag eines großen Autors
Literatur und Politik. Heinrich Böll war ein Schriftsteller, der sich politisch einmischte. Als souveräner Bürger wollte er sein Freiheitsrecht wahrnehmen, Widerstand öffentlich zu artikulieren.
Er war stets eigensinnig, er hörte nicht auf Ideologen, sondern auf sich selbst und seinen Verstand. Er ließ sich nie vereinnahmen. Zum hundertsten Geburtstag der „Schreibmaschine“.
HHeinrich Böll erscheint als eine einzigartige, heute in dieser Form undenkbare Figur. Er war ein Schriftsteller, dessen Stimme in der Öffentlichkeit wirklich gehört wurde. Er war ein Autor, der tatsächlich enormen Einfluss auch im Politischen hatte. Natürlich bildete sein literarisches Werk die Grundlage für diese Wirksamkeit. Böll verhandelte in seinen Büchern vor allem Themen, die in der Nachkriegszeit von einer den Schrecken von Krieg und NaziDiktatur entronnenen Gesellschaft oftmals verdrängt wurden. Das Register seiner Stoffe liest sich in dieser Hinsicht wie „eine kritische Gesellschafts-, Politik- und Kulturgeschichte“, bemerkt Jochen Schubert in seiner neuen Böll-Biografie (Theiss Verlag, Stuttgart 2017).
Aber Böll spielte auch eine öffentliche Rolle. In den deutschen Debatten durfte sein Wort für viele Jahre nicht fehlen. International hatte er großes Ansehen, weil er sich zum Beispiel als P.E.N.-Präsident vehement für verfolgte Autoren einsetzte. Konsequenterweise würdigte das Komitee, das 1972 an ihn den Literaturnobelpreis vergab, Böll gleichermaßen als Literaten und als öffentlichen Intellektuellen. Bölls Singularität rührt daher, dass sich dieser Schriftsteller sein Urteil vollkommen unabhängig bildete. Er ließ sich von keiner Gruppe, von keiner politischen Partei vereinnahmen. Er blieb ein Einzelgänger und im positiv-produktiven Sinne eigensinnig. Für ihn gab es kein Lagerdenken, und das war keineswegs selbstverständlich im Kalten Krieg. Sein Engagement für Freiheit und Menschenrechte war unteilbar und unbestechlich. Er setzte sich für Dissidenten in Osteuropa ein, von Lew Kopelew bis Alexander Solschenizyn, und ebenso für Flüchtlinge aus Vietnam.
Heinrich Böll war widerständiger Künstler und engagierter Intellektueller zugleich. Für ihn waren diese zwei Dinge eins. Man kann darin sogar den Kern seines Selbstverständnisses sehen. Immer wieder kam es deshalb zu heftigen Kontroversen um politische Stellungnahmen Bölls.
Im November 1982 beschloss der Stadtrat von Köln, Böll das Ehrenbürgerrecht zu verleihen. In der Begründung wurde der Autor als „meisterhafter Erzähler und Schriftsteller von internationalem Rang“und zugleich als „mutiger Verteidiger der Freiheit und der freien Meinungsäußerung“sowie als „kritischer und engagierter Beobachter gesellschaftlicher Fehlentwicklungen“gewürdigt. Die CDU im Kölner Stadtrat sah sich freilich außerstande, in diesen Lobpreis einzustimmen. Die christlich-demokratische Fraktion war lediglich bereit, den „meisterhaften Erzähler und Schriftsteller von internationalem Rang“zu ehren. Böll lehnte dies als nur „halbe Ehrung“ab. Auch Autoren und ihr Werk seien unteilbar wie die Freiheit selbst, argumentierte er. Am Ende fand Bölls „Vaterstadt Köln“einen Kompromiss: Sie nannte ihren neuen Ehrenbürger einen „meisterhaften Erzähler und Schriftsteller von internationalem Rang“, erkannte aber ausdrücklich auch sein gesellschaftliches Engagement an, das in seinen Werken ebenfalls zum Ausdruck komme.
Heinrich Böll wertete diesen Vorgang als eine „generelle Verkennung der Literatur“. Nicht verständlich erschien ihm der Versuch, den Erzähler zu trennen von dem Essayisten, der Aufsätze, Kritiken und Reden verfasst. Das Literarische, ja Poetische von solchen essayistischen Texten liege gerade darin, betonte Böll, dass es sich von der „routinepolitischen Sprache“abhebe.
Eine neuerliche Beschäftigung mit Böll ist wie die Wiederkehr einer versunkenen Zeit. So viele seiner Wortmeldungen haben mit den Zeiten des Kalten Krieges zu tun. Diese Periode ist längst vorbei. Doch Denken und Haltung dieses Autors haben sich eine bemerkenswerte Aktualität bewahrt, wie es in der neuen Böll-Biografie heißt. Die Werke des Autors aus den 1970er- und 1980er-Jahren verweisen direkt auf unsere Probleme von heute, sei es das Thema Überwachungsstaat, sei es die Bürger-Besorgnis, dass sein Gemeinwesen wegen allzu starker Wirtschafts- und Finanzakteure an Handlungsmacht einbüßen könnte.
Bölls „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“(1974) ist nur eine schmale Erzählung, aber sie trifft die deutsche Gegenwart mitten ins Herz (Marcel Reich-Ranicki). Dargestellt wird darin, „wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann“. Eine Frau nimmt einen Mann, der wegen politischer Delikte gesucht wird, mit in ihre Wohnung. Als sie ihm zur Flucht verhilft, wird sie zur Zielscheibe einer Verleumdungskampagne, angezettelt von der Sensationsmache einer Boulevardzeitung. Am Ende erschießt die Frau in unerwarteter Gegenwehr einen korrupten Journalisten. Angeprangert wird eine Gesellschaft, die solche persönlichkeitszerstörenden Presseattacken duldet.
In seinem Roman „Fürsorgliche Belagerung“(1979) wollte Böll nach eigenem Bekunden das Thema Sicherheit ausleuchten. Festgemacht wird es in dem Buch an vier Gruppen: Es gibt Bewacher und Bewachte, Überwachte und Sicherheitsgeschädigte – jene also, die als Nachbarn von Sicherheitsmaßnahmen betroffen sind. Der Leser soll erkennen, dass sich das Ziel totaler Sicherheit am Ende ins Gegenteil verkehrt. Angst weckt Misstrauen gegenüber den anderen Menschen; die Gemeinschaft löst sich auf.
Bölls letztes Buch „Frauen vor Flusslandschaft“(1985) war ein Versuch, das Machtgefüge der Bonner Republik in einer Innenansicht zu beschreiben. In den Augen des Autors wurde die Macht immer eindeutiger erkennbar im Hintergrund ausgeübt – mit dem Ergebnis, dass „die, die uns regieren, nicht immer die sind, die uns beherrschen“. Intrigen, Machtspiele, Finanzskandale kennzeichnen die politische Szene in der Regierungsstadt Bonn in den 1980er-Jahren. Die Personen stammen aus dem Milieu einflussreicher Politiker-, Bankiers- und Industriellenfamilien. Von einem Schlüsselroman kann keine Rede sein. Es gibt keine Handlung, sondern nur Dialoge und Selbstgespräche, dazwischen Regiebemerkungen. Es ist ein Figurenspiel, eine Fiktion. Doch zu lesen ist das Buch als Bölls „Fazit“der bisherigen politischen Geschichte der Bundesrepublik. Trotz satirischer Streiflichter ist es ein bitterer Abgesang. Derart negativ ist dieses Bonn-Bild, dass Dieter Lattmann, selbst Autor und SPD-Bundestagsabgeordneter, Einspruch erhoben hat: Das Buch habe „wenig mit Authentizität zu tun“. Auf Strukturen der real existierenden Demokratie lasse sich Böll nicht ein. Der Konflikt der Parteien werde nicht dargestellt.
Einen wie Heinrich Böll gibt es heute nicht mehr. Aber Schriftsteller, die sich ähnlich wie er dem öffentlichen Engagement verschrieben haben, finden sich auch jetzt, Ilija Trojanow zum Beispiel oder Navid Kermani. Seit 30 Jahren trägt eine den deutschen Grünen nahestehende Stiftung seinen Namen. Aufklärung ist das Ziel der politischen Studien, die sie in Auftrag gibt. Die Verantwortlichen stellen fest, dass bei internationalen Projekten Böll noch immer ein Türöffner ist. Seine große Reputation wirkt weiter. Im Rahmen des Programms der Heinrich-Böll-Stiftung interessieren sich immer wieder junge Leute für den Autor; sie entdecken ihn neu. Was sie vor allem beeindruckt, ist seine Haltung: die Zivilcourage und der Einsatz für die Freiheit.
Worte haben für mich andere Dimensionen als etwa für Politiker. Heinrich Böll, 1972
Ein Erzähler und Schriftsteller von internationalem Rang. Stadtrat von Köln, 1982