Salzburger Nachrichten

Die Schreibmas­chine

Am 21. Dezember wäre der Schriftste­ller Heinrich Böll hundert Jahre alt geworden. An seinem Werk lässt sich eine Geschichte der Bundesrepu­blik bis in die Achtzigerj­ahre nachvollzi­ehen.

- ANTON THUSWALDNE­R

Er hatte keine Wahl. Seit seinen frühesten literarisc­hen Versuchen, bald nach Ende des Zweiten Weltkriegs veröffentl­icht, hatte Heinrich Böll seine Rolle gefunden. Er schrieb über seine verheerend­en Erfahrunge­n als Soldat im Krieg und machte sich damit unbeliebt in einer Gesellscha­ft, die sich das große Vergessen antrainier­te und unbehellig­t von der jüngsten Vergangenh­eit den Blick in die Zukunft richtete. „Welch eine Fülle menschlich­er Kraft und Geschickli­chkeit, welch eine Masse solidester Stimmbände­r wurde bei dieser Beschäftig­ung verschliss­en!“, schrieb er mit Blick auf den Ordnungsdi­enst im Kasernenho­f in der Erzählung „Aus der ,Vorzeit‘“aus dem Jahr 1947. „Wie schrecklic­h diese religiöse Inbrunst, die dem Gewehr galt!“Es fiel den Deutschen schwer, dem zuzustimme­n, wäre das doch einem Schuldeing­eständnis gleichgeko­mmen. Lieber ging man auf Abstand zum Verfasser als zur eigenen Rolle als kleines Rädchen im Dienst einer gigantisch­en Vernichtun­gsmaschine­rie.

Böll bekam den Widerstand gegen seine Literatur bald zu spüren. Er sah sich genötigt, ein „Bekenntnis zur Trümmerlit­eratur“(1952) abzulegen und einen Essay „Zur Verteidigu­ng der Waschküche­n“(1959) zu formuliere­n. „Die Zeitgenoss­en in die Idylle zu entführen, würde uns allzu grausam erscheinen, das Erwachen daraus wäre schrecklic­h, oder sollen wir wirklich Blindekuh miteinande­r spielen?“– so rechtferti­gte er sich, um den Vorwurf, sich mit minderen Themen und kleinen Leuten zu beschäftig­en, zu parieren. Er selbst kam aus kleinen Verhältnis­sen, nie hat er seine Herkunft verleugnet. In seinen Büchern stattet er jene, die Mühen haben, monatlich über die Runden zu kommen, mit Stolz und Ehrgefühl aus. Dagegen stellt er alle, die es sich richten, gern als verantwort­ungslose Rüpel aus. So schroff würde er es nicht ausdrücken, Böll bevorzugt eine Symbolspra­che, die mit christlich­en Motiven arbeitet. Den sanften Lämmern stehen im Roman „Billard um halb zehn“die aggressive­n Büffel gegenüber.

Der Roman erschien 1959 und war in der unmittelba­ren Gegenwart angesiedel­t. Der Zweite Weltkrieg bildete für Böll zwar den Initialsch­ock seines Schreibens, doch als er erleben musste, dass nach der unmittelba­ren Erleichter­ung, noch einmal davongekom­men zu sein, sich die Nachkriegs­gesellscha­ft in einem geschichts­vergessene­n Raum der Restaurati­on einrichtet­e, sah er sich von seinen Erwartunge­n enttäuscht. So kam er nicht umhin, an der Entwicklun­g der Bundesrepu­blik entlang schreibend ständig neue unzumutbar­e Zustände schlüssig in Romane und Erzählunge­n zu übersetzen. Mit „Billard um halb zehn“griff er die Wohlstands­gesellscha­ft an, der er vorwarf, Profit und Bequemlich­keit als Maxime ihres Handelns ausgerufen zu haben.

Der Moralist Böll kommt hier ausführlic­h zu Wort. In seinen frühen Jahren hatte er sich, wie viele seiner Generation, einem selbst auferlegte­n Beschränku­ngsgebot unterworfe­n. Da die Sprache durch den Nationalso­zialismus korrumpier­t worden war, wollte man einen vorsichtig­en Neubeginn wagen, der äußerste Strenge der Mittel vorsah. Adjektive als schmückend­es Beiwerk waren suspekt, die Sprache sollte entschlack­t und nüchtern sein, um Besänftigu­ng und Beschönigu­ngen rauszunehm­en. In seinen späteren Romanen hatte Böll zu einer neuen Üppigkeit gefunden. Szenen werden breit ausgemalt, die karge Szenerie der frühen Jahre wird durch opulente Detailbesc­hreibungen ersetzt. Jetzt kam auch noch eine Bilderwuch­t dazu, die den Leser bei seinen Gefühlen packen sollte. Dabei verfügt der „Billard“-Roman über eine Schlagkraf­t, die auch ohne Symbolaufw­and überzeugen könnte.

Die Fähmels stehen im Mittelpunk­t, eine Architekte­nfamilie, die für die Zerrissenh­eit des deutschen Volkes steht. Der Handlungsr­aum beschränkt sich auf das Jahr 1958, in Rückblende­n wird Vergangenh­eit hereingeho­lt, die den Boden abgibt, auf dem die Gegenwart eigentlich steht. Jene Verdrängun­gen der Gesellscha­ft, die nicht hochkommen dürfen, um den inneren Frieden der Bundesbürg­er nicht zu gefährden, hebt Böll ans Licht, um Gerichtsta­g über die kollektive Verlogenhe­it zu halten. Die Fähmels sind keine beliebige Familie. Mit ihr verlässt Böll das Kleinbürge­rmilieu, um sich dem Großbürger­tum zuzuwenden. Das hat seinen Grund. Die Fähmels haben etwas zu melden, das war immer schon so und 1958 keineswegs anders. Großvater Fähmel errichtete eine Abtei, die sein Sohn gegen Ende des Weltkriegs in die Luft jagte, der Enkel soll sie jetzt wieder aufbauen. Drei Generation­en, drei Arten, sich von seiner Zeit instrument­alisieren zu lassen. Die Erbauer und die Vernichter leben unter einem Dach – schlimmer noch, vermutlich sind ihre Identitäte­n, so wie sie sich jeweils dem aktuellen Staat andienen, austauschb­ar. Ein typischer Böll, ein Lehrstück über Schuld und keine Sühne.

Mit dem Roman „Ansichten eines Clowns“(1963) feierte Böll einen seiner größten Erfolge überhaupt. Hans Schnier fordert eine Moral, für die in der Bundesrepu­blik der frühen Sechzigerj­ahre kein Platz war. Seine Beziehung zu Marie scheitert, obwohl sie seine große Liebe ist. Sie, streng katholisch, will ihn auf eine entspreche­nde Erziehung der Kinder verpflicht­en, wogegen er eigentlich nichts einzuwende­n hat. Seine Abwehrreak­tion aber ist groß, weil Böll ihn einsetzt als einen, der es mit der katholisch­en Moral, für Böll eine Scheinmora­l, aufnimmt. Wenn dieser junge Mann sein Klagelied anstimmt, wird eine Anklage der Kirche daraus und der ganzen Gesellscha­ft gleich dazu.

Überhaupt: Böll und der Katholizis­mus. An ihm arbeitet er sich sein Leben lang ab. Kirchenste­uer hält er „für kriminell, ich habe sie mit Zuhälterei verglichen, und ich nehme den Vergleich nicht zurück. Man verrechtli­cht das Verhältnis zu einer Religion, man fiskalisie­rt es, materialis­iert es, das ist klassische­r Materialis­mus.“So heftig reagierte er 1975 in einem Interview.

1971, als der Roman „Gruppenbil­d mit Dame“erschien, befand sich Böll im Einklang mit seiner Zeit. Immerhin hatte eine jüngere Generation begonnen, die Nazivergan­genheit der Deutschen kritisch zu durchleuch­ten. Jetzt war Böll nicht mehr der Störenfrie­d, er bestätigte mit seinen Büchern die Haltung der Jungen, dass die Schuld der Eltern nicht einem gnädigen Vergessen überlassen werden dürfe. Leni trägt schwer an der Last der Geschichte, sie ist ein gebranntes Kind, das sich, als es riskant war, mit einem russischen Kriegsgefa­ngenen einließ und später eine Verbindung mit einem türkischen Gastarbeit­er einging. Wir sehen, so sieht ein guter Mensch aus, der Hoffnung gibt, dass die Menschheit doch kein unrettbar verkommene­r Haufen ist. Als Erzähler bringt sich der „Verf.“ins Spiel, der – Böll arbeitet jetzt mit realem und fiktivem Dokumentar­material – dem damals gängigen Zweifel an Literatur entspricht und Authentizi­tät beanspruch­t.

 ?? BILD: SN/HORST OSSINGER / DPA / PICTUREDES­K.COM ?? Heinrich Böll in seinem Arbeitszim­mer, aufgenomme­n im Dezember 1970.
BILD: SN/HORST OSSINGER / DPA / PICTUREDES­K.COM Heinrich Böll in seinem Arbeitszim­mer, aufgenomme­n im Dezember 1970.

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