Löfflers Lektüre.
David Constantine. Siebzehn Geschichten enthüllen Feingefühl und exquisite Melancholie des britischen Schriftstellers.
Die bekannte Literaturkritikerin über den Autor David Constantine.
EErst als der Film „45 Years“bei der Berlinale 2015 mit dem Silbernen Bären für die Hauptdarsteller Charlotte Rampling und Tom Courtenay ausgezeichnet und ein großer Kinoerfolg wurde, rückte auch der Mann ins Rampenlicht, auf dessen Erzählung „In einem anderen Land“der Film beruhte: David Constantine. Nun, in vorgerücktem Alter, wurde der britische Lyriker und Übersetzer, der dreißig Jahre lang an den Universitäten Durham und Oxford deutsche Sprache und Literatur unterrichtet hatte, plötzlich als vorzüglicher Erzähler entdeckt. Eine wundersame Alterskarriere wurde ihm zuteil. Und jetzt können auch deutschsprachige Leser die ganz eigentümliche, verschwiegene Erzählwelt dieses Autors kennenlernen – in einem Erzählungsband, der siebzehn seiner Geschichten versammelt, darunter natürlich auch die Filmvorlage „In einem anderen Land“.
Diese Erzählung entpuppt sich als ein komprimierter Eheroman, als ein so delikates wie abgründiges Kammerspiel zu dritt. Zwei Lebende und eine Tote werden in eine stille Katastrophe verstrickt. Nach 45 Ehejahren wird das ruhige Leben von Mr. und Mrs. Mercer in der englischen Provinz zum Einsturz gebracht, als der alte Mann einen Brief aus der Schweiz erhält: Im tauenden Eis einer Gletscherspalte ist der Leichnam seiner Jugendliebe Katja zum Vorschein gekommen, die vor mehr als fünfzig Jahren bei einer Bergwanderung der jungen Leute in den Alpen verunglückte. Die Tote ist im Eis makellos konserviert – als schöne junge Zwanzigjährige.
Der Fund lässt die Vergangenheit wieder aufwallen und bringt für die Mercers die Zeit ins Taumeln und ihre Ehe ins Straucheln. Erst recht, als der Ehemann seiner kinderlosen Frau gesteht, dass Katja schwanger war, als sie starb. Während Mr. Mercer den Dachboden nach Erinnerungsstücken und Fotos seiner Jugendliebe durchwühlt und in die Zeit seines verlorenen Glücks abtaucht, in der es seine jetzige Ehefrau noch nicht gab, fragt sich die tief gekränkte Mrs. Mercer voller Bitterkeit, ob damit nicht ihr Leben verschwendet und ihre ganze Ehe entwertet ist. War denn das, was in den langen Ehejahren zwischen Mann und Frau gewachsen ist, nicht „beinahe so wirklich wie ein Kind“?
Offenbar nicht. Dass die Erzählung als Variante zu „Die Bergwerke zu Falun“erkennbar wird, einem in der Literatur von E.T.A. Hoffmann bis Hugo von Hofmannsthal viel bearbeiteten Motiv vom verunglückten jungen Bergmann, dessen konservierter Leichnam nach Jahrzehnten von seiner alt gewordenen Braut wiedererkannt wird, ist ein Extra-Bonus für deutschsprachige Leser.
Mit seinen Anspielungen auf griechische Mythen, auf Dante, Rimbaud oder Goethe gibt sich David Constantine als weltliterarisch belesener Autor zu erkennen. In der Geschichte „Mr. Carlton“bleibt der Held auf einem Autobahnkreuz im Stau stecken und blickt zwischen den Zubringern, Schleifen und Pfeilern des monströsen Verkehrsbauwerks auf ein Idyll hinunter, auf ein übrig gebliebenes Backstein-Häuschen von früher in einem von Hecken eingehegten Apfelgarten, in dem ein alter Mann Rosen schneidet und eine alte Frau die Wäsche abnimmt, als seien sie Goethes Philemon und Baucis, ehe sie in „Faust II“einer zerstörerischen Moderne geopfert werden.
Man sieht schon: David Constantines Herz schlägt für die Vergangenheit. Seine Liebe gilt der Welt von früher. Die Moderne lässt ihn schaudern. Nicht überraschend, dass in diesen Erzählungen das elektronische Spielzeug unserer Zeit, vom Handy bis zum Laptop, keinerlei Erwähnung findet. Das Territorium dieses Autors ist das Hinterland von Nordengland und Wales, sind aber auch die entlegenen Felseninseln der Scilly Islands – Gegenden, wohin die Moderne nicht vorgedrungen ist.
Es sind archaische englische Landschaften mit großen Himmeln und viel Wasser: mit verborgenen Wasserfällen und Quellen, die aus Kalksteinhöhlen springen, und mit uralten heidnischen Wunschbrunnen und Fluchbrunnen. Das Wattenmeer vor der Küste mit seinen tückischen Gezeiten taucht immer wieder auf, als tödlich gefährlicher Ort. Kaum tritt man aus den touristischen Küstenorten hinaus und biegt ab aus den Häuserzeilen der städtischen Moderne, tut sich eine andere Zeit auf, und die Natur tritt in ihr Recht, mit ihren Hochmooren, Tümpeln und heimlichen Gewässern.
Denn die Natur, verletzbar und missbraucht, wie sie ist, ist die eigentliche Protagonistin dieser Erzählungen, in ihrer wilden Schönheit und ihren Beschädigungen durch die Zivilisation. Ein Grundgefühl von Endzeit durchwirkt diese Geschichten. Ein Naturschützer in der Erzählung „Die Höhle“spricht es am deutlichsten aus: „Das Leben ist ein Gewebe. Es zerreißt, es bekommt vor meinen Augen immer größere Löcher, Tag und Nacht, und wir flicken, wo wir können, aber das sind bloß Rückzugsgefechte. Wir können es hier und da ein wenig aufhalten, und das fühlt sich wie ein Sieg an, aber insgesamt geht alles dem Ende entgegen, wie jeder, der sich auskennt, sehr gut weiß.“
Doch die Landschaften bei Constantine sind immer noch großartig und mächtig, die Menschen darin wirken klein: Vereinsamte, Verlorene und Trauernde, die nicht fest im Leben stehen. Alternde Menschen, die sich im grübelnden Rückblick fragen, ob sie ihr Leben nicht auch anders und mit einem anderen Partner hätten verbringen können. Junge Menschen, die den Zugang zum Leben nicht finden können oder wollen – magersüchtige Mädchen, die sich ritzen, selbstmordgefährdete Jugendliche, die aus dem Dachfenster springen und in der Psychiatrie bei Ärzten landen, die allen Ernstes glauben, „ihre Suizid-Patienten wollten geheilt werden“. Viele Figuren dieses Autors könnten mit Kleist sagen, dass ihnen auf Erden nicht zu helfen ist.
Feingefühl und exquisite Melancholie zeichnen diese stillen Erzählungen aus. Wir Menschen, lässt der Autor eine seiner Figuren sagen, können nicht „bei der rasenden Fahrt in den Untergang zuschauen, ohne zu trauern“.