Salzburger Nachrichten

Vertuscht.

Die Zahl ist erschütter­nd. Zehntausen­de Australier sollen als Kind sexuell missbrauch­t worden sein. Eine Untersuchu­ngskommiss­ion schlägt nun vor, was sich ändern sollte.

- SYDNEY. SN, dpa

Zehntausen­de Australier sollen als Kind missbrauch­t worden sein. Vorschläge, was sich jetzt ändern muss.

Empfohlen wird eine Lockerung des Zölibats

„Der Abschlussb­ericht ist eine nationale Tragödie.“Malcolm Turnbull, Premiermin­ister

Paul Gray war zehn, als er von einem Geistliche­n vergewalti­gt wurde. Anschließe­nd schnitt ihm der Gottesmann auch noch mit einem kleinen Messer ins Fleisch und tröpfelte das Blut über seinen Rücken – angeblich, um das Leid Christi zu symbolisie­ren. Das Ganze geschah schon Mitte der 1960erJahr­e in einem Heim namens St. Alban’s in Cessnock, einer australisc­hen Kleinstadt nördlich von Sydney. Aber erst jetzt, ein halbes Jahrhunder­t später, als längst erwachsene­r Mann, sprach Gray zum ersten Mal darüber.

Seine Aussage gehört zu den erschütter­ndsten Dokumenten des Abschlussb­erichts, den Australien­s „Königliche Kommission“zum sexuellen Missbrauch von Kindern nach fünf Jahren Arbeit am Freitag veröffentl­ichte. Demnach wurden auf dem fünften Kontinent zwischen 1950 und 2015 Zehntausen­de Kinder Opfer sexueller Gewalt – oft in Einrichtun­gen der Kirche (vor allem der katholisch­en), aber auch in staatliche­n Schulen, in Sportverei­nen und bei den Pfadfinder­n. Die Kommission war 2012 von der damaligen Premiermin­isterin Julia Gillard eingericht­et worden, nachdem eine Reihe von schweren Missbrauch­sfällen bekannt geworden war. Wie viele Opfer es genau waren, kann niemand sagen. Im Bericht der Kommission heißt es: „Die genaue Zahl werden wir nie wissen.“Das Ganze sei aber keineswegs ein „Fall von ein paar faulen Äpfeln“. „Die wichtigste­n Institutio­nen der Gesellscha­ft haben schwer versagt.“Gillards Nachfolger Malcolm Turnbull sprach von einer „nationalen Tragödie“. Die katholisch­e Kirche bat förmlich um Entschuldi­gung.

Tatsächlic­h ist das Ausmaß enorm. Die Kommission schätzt, dass heute noch etwa 60.000 Opfer Anspruch auf Entschädig­ung geltend machen könnten – wenn es denn so etwas gibt. Nach ihren Recherchen wurden über sechseinha­lb Jahrzehnte hinweg Kinder in mindestens 4000 Einrichtun­gen missbrauch­t, in Schulen, Kirchen, Heimen, Internaten. Die Mehrheit der Opfer waren Buben. Durchschni­ttlich waren sie nicht einmal zwölf Jahre alt. In vier von fünf Fällen blieb es nicht bei einem Mal.

Die große Mehrheit der Täter waren Männer – oft Priester und Lehrer, aber nicht nur. Eine der besonders schlimmen Zahlen: Im Durchschni­tt der Jahrzehnte sollen sich sieben Prozent von Australien­s katholisch­en Priestern an Kindern vergangen haben. In einigen Kreisen war es besonders arg. Im Johannes-Orden „St. John of God Brothers“machte fast jeder zweite Priester beim Missbrauch mit.

Wer erwischt wurde, musste laut Feststellu­ngen der Kommission keine großen Konsequenz­en fürchten. „Obwohl die Kirchenfüh­rung wusste, dass sie eine Gefahr bedeuten, hatten mutmaßlich­e Täter oft weiterhin Zugang zu Kindern“, heißt es in dem Bericht. „Wir haben gehört, dass sie oft versetzt, aber selten angezeigt wurden.“Damit war die katholisch­e Kirche keine Ausnahme. Auch die Zeugen Jehovas sollen 1000 mutmaßlich­e Täter toleriert haben.

Mit der „Königliche­n Kommission“ist Australien weiter als die meisten anderen Länder der Welt. Vielerorts steckt die Aufklärung über die systematis­che Misshandlu­ng von Kindern noch in den Anfängen. Zudem gab die Kommission der Politik und den Kirchen auch eine ganze Reihe von Ratschläge­n, was verbessert werden könne. Der Abschlussb­ericht enthält nicht weniger als 400 Vorschläge.

Dazu gehört, dass Kinder in Kindergärt­en und Grundschul­en künftig besser vorbereite­t werden sollen. Australien soll eine Behörde zum Kinderschu­tz und einen „Kindermini­ster“bekommen.

Eine weitere Empfehlung lautet, die Kirchen sollten Priesteram­tskandidat­en für die Arbeit mit Kindern prüfen – beispielsw­eise mit psychologi­schen Tests oder durch ein psychosexu­elles Gutachten von externen Experten. Menschen, gegen die ein begründete­r Vorwurf des sexuellen Missbrauch­s von Kindern erhoben wurde oder die wegen Missbrauch­s verurteilt wurden, sollen nie wieder in der Seelsorge arbeiten dürfen.

Wer sexuellen Missbrauch beobachtet und nicht meldet, soll selbst bestraft werden können.

Turnbull setzte sogleich eine Arbeitsgru­ppe ein, die die Vorschläge prüft, auch das Thema Entschädig­ung. Schwierige­r mit den Empfehlung­en tut sich Australien­s katholisch­e Kirche. Ihr legte die Kommission nahe, eine Lockerung des Zölibats zu prüfen. „Der Zwang zur Ehelosigke­it könnte unter manchen Umständen zum Missbrauch beigetrage­n haben“, heißt es in dem Bericht. Auch eine teilweise Aufhebung der Beichtgehe­imnisses wird vorgeschla­gen: Wer im Beichtstuh­l von sexuellem Missbrauch hört, soll künftig zur Polizei gehen können. Der Vorsitzend­e der australisc­hen Bischofsko­nferenz, Melbournes Erzbischof Denis Hart, lehnte dies unverzügli­ch ab. Für die Kirche sei das Beichtgehe­imnis von großer Bedeutung, sagte er.

Gleichwohl bat der Erzbischof nochmals ausdrückli­ch um Entschuldi­gung für die „beschämend­e Vergangenh­eit“. Den Vorschlag, das Zölibat abzuschaff­en, würden die Bischöfe an den Vatikan weitergebe­n, sagte Hart.

Dass das Thema nicht ausgestand­en ist, weiß die Kirche. Spätestens im März 2018 wird es wieder Schlagzeil­en geben: Dann hat Australien­s höchstrang­iger Katholik, Kurienkard­inal George Pell, seinen nächsten Termin vor Gericht. Der einstige Papst-Vertraute muss zu Vorwürfen Stellung nehmen, selbst mehrere Buben missbrauch­t zu haben. Der 76-Jährige streitet die Vorwürfe vehement ab. Von seinem Amt als Finanzchef des Vatikans wurde er aber beurlaubt.

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