Die Kurden haben die Nase voll
Im Norden des Iraks gibt es heftige Proteste gegen die eigene Führung.
In den kurdischen Autonomiegebieten im Norden des Iraks halten die Unruhen an. Tausende Kurden begannen am Montag, gegen die herrschenden Parteien zu demonstrieren, die Patriotische Union Kurdistans (PUK) und die Demokratische Partei Kurdistans (DPK). Diese beiden Gruppierungen teilen die Macht unter sich auf. Parteibüros wurden in Brand gesetzt. Die Polizei und Einheiten der kurdischen PeschmergaArmee erhielten daraufhin Schießbefehl. Nach übereinstimmenden Berichten wurden bislang mindestens sechs Menschen getötet sowie mehr als 80 durch Schüsse verletzt
„Wir sind hier, um eine Herrschaft zu beenden, die keine verfassungsmäßige Legitimation mehr hat“, erklärte ein Demonstrant im Lokalfernsehen der Stadt Suleimanieh. Die Menschen müssten in Entscheidungsprozesse mit einbezogen werden. Tatsächlich ist die Amtsperiode des kurdischen Präsidenten Massud Barsani im August 2015 abgelaufen. Doch er verweigerte den Rücktritt. Schon damals hatten Tausende gegen ausbleibende Lohnzahlungen und die mangelhafte Strom- und Wasserversorgung protestiert.
Während die Regionalregierung den niedrigen Ölpreis und die hohen Kosten für die Versorgung der Flüchtlinge verantwortlich machte, warfen die Demonstranten den kurdischen Feudalherren vor, sich auf Kosten der Bevölkerung zu bereichern. Um politisch zu überleben brauchte Barsani einen Erfolg, weshalb er trotz massiver Warnungen aus Bagdad und dem Ausland am 25. September die Bevölkerung über die Unabhängigkeit der seit 2003 autonomen Kurdenregion abstimmen ließ.
Wenige Tage später war der Traum von einem unabhängigen Kurdistan zu Ende: Mit Rückendeckung aus dem Iran und der Türkei besetzte die irakische Armee die Großstadt Kirkuk und die umliegenden Ölfelder, die die kurdische Regionalregierung bis dahin in Eigenregie ausgebeutet hatte. Zudem brachte die Bagdader Zentralregierung die internationalen Flughäfen in Kurdistan und alle wichtigen Grenzübergänge binnen weniger Tage unter ihre Kontrolle.
Barsani hatte zu hoch gepokert und die Entschlossenheit Bagdads sträflich unterschätzt. In nur zwei Wochen verlor der Kurdenführer fast alles – und hatte keine andere Wahl, als zurücktreten.
Das Amt des Ministerpräsidenten übernahm sein Neffe Nechirvan Barsani, der damit den Fortbestand der Macht des Clans sicherte. Gleichzeitig wurden die für November angesetzten Wahlen auf unbestimmte Zeit verschoben.
„Die Proteste sind das Resultat einer über Jahre verfehlten Politik des Barsani-Clans“, betont der kurdisch-irakische Politikwissenschafter Ariz Kader. Im Falle erneuter Gewalt will die Bagdader Zentralregierung nun den „Schutz kurdischer Zivilisten garantieren“– mit anderen Worten , militärisch intervenieren.