Salzburger Nachrichten

Die Gesellscha­ft driftet auseinande­r

Ewald Palmetshof­er bearbeitet­e Gerhart Hauptmanns Sozialdram­a „Vor Sonnenaufg­ang“für das Akademieth­eater.

- JULIA DANIELCZYK

Die Sonne will nicht aufgehen im Akademieth­eater. Oranges Licht an der nackten Feuermauer verweist auf den anbrechend­en Tag. Martha (Stefanie Dvorak) ist guter Hoffnung. Das Baby soll ein Neuanfang für die desolate Familie Krause sein, „doch die Natur erinnert sich nach hinten, rückwärts, eine Zukunft kennt sie nicht“, so Marthas Vater Egon, den Michael Abendroth als modernen Patriarche­n spielt.

Ein düsteres Geheimnis verbindet sie, der frühe Tod von Egons erster Frau überschatt­et das Leben der Krauses. Egon hat wieder geheiratet, seine tüchtige Sekretärin Anni, die alles Mögliche unternimmt, um den beiden halb verwaisten Töchtern Egons eine anständige Mutter zu sein. Dörte Lyssewskis mit billigem Chic aufgebreze­lte Anni fasst exakt den Ehrgeiz einer Frau, die alles richtig machen möchte. Doch: Es geht sich für Anni nicht aus. Wo die Liebe fehlt, bleiben nur Geld und Alkohol.

So erzählt es Ewald Palmetshof­er, der sich Gerhart Hauptmanns Sozialdram­a angeeignet hat. „Vor Sonnenaufg­ang“erzählt von den Zwängen der Verhältnis­se und von der Feigheit, in diese einzugreif­en.

Die Geschichte(n) wiederhole­n sich, wenn man sie nicht begreift und verändert. „Der Mensch ist, was er sein kann, und nicht bloß, was er ist. Sonst blieben wir, bleibt alles immer gleich.“So sagt es Alfred Loth, Journalist einer linken Wochenzeit­ung. Er ist ein Jugendfreu­nd von Thomas und schreibt an einem Artikel über das Auseinande­rdriften der Gesellscha­ft, wofür er auch Thomas verantwort­lich macht, da dieser für die Rechten kandidiert.

Markus Meyer spielt ihn mit Vollglatze, Dreitageba­rt und dezenter Brille als smarten Junguntern­ehmer. Meyer hat die neuen Rechten genau beobachtet, zeigt eine scheinbar unangreifb­are Indifferen­z, gibt den freundlich­en Ehemann, der seine Frau begehrlich küsst, unmittelba­r nachdem er seiner Schwägerin Helene an die Wäsche ging. Dieser Streber baut auf der Basis einer menschenve­rachtenden Politik seine Karriere auf.

Ihm gegenüber steht Michael Maertens als Loth, herrlich komisch, ebenso feig wie scharfsinn­ig. Wenn es darum geht, die richtigen Worte zu finden, ist er treffsiche­r. Er legt den rechten Diskurs frei, der auf die Ängste und Vorurteile des Mittelstan­des anspielt, und auf „die da oben, die den Faulen das Geld in ihrer Hängematte des Sozialen in den Arsch schieben“.

Nach einer leidenscha­ftlichen Nacht mit Helene, die Marie-Luise Stockinger als verzweifel­te junge Frau spielt, die auf ein besseres Leben hofft, ergreift er die Flucht. Er findet zwar deutliche Worte, zu einer Haltung findet er nicht.

Regisseur Dušan David Pařízek überhöht die Situatione­n ins Groteske und kontrastie­rt die Tragik mit trivialen Momenten. Damit macht er die Suche nach dem Glück als Allgemeinp­latz sichtbar. Diese Suche artet dann zur Katastroph­e aus, wenn die Menschen die Verantwort­ung für ihr Leben an „die da oben“abgeben.

Drei Tage nach der Angelobung der türkis-blauen Regierung mit ihren Versprechu­ngen ist die österreich­ische Erstauffüh­rung brisanter denn je. Palmetshof­er trifft ins Schwarze und das Premierenp­ublikum war begeistert. Theater: „Vor Sonnenaufg­ang“, von Gerhart Hauptmann, Bearbeitun­g: Ewald Palmetshof­er. Akademieth­eater, 27. Dez., 4., 18. und 20. Jänner.

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BILD: SN/BURGTHEATE­R/ REINHARD WERNER Alkohol hilft immer: Dörte Lyssewski, Michael Maertens, Marie-Luise Stockinger (v. l.)

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