Eine kleine Erinnerung: Der Mensch ist kein Algorithmus
Der seit Jahren grassierende Irrglaube an die Messbarkeit des gesamten Lebens steuert einem neuen Höhepunkt zu.
Der Mensch wird seit jeher gewogen und vermessen: vom Baby, das zur Welt kommt, über die Schulnoten, deren Wiedereinführung in der Volksschule neuerdings als Innovation verkauft wird, bis zur Musterung beim Bundesheer und dem Assessment-Center beim Berufseinstieg. Wem es gelingt, das Leben in Zahlen und mathematische Formeln zu pressen, kann messen, vergleichen, einordnen. „Miss alles, was sich messen lässt, und mach alles messbar, was sich nicht messen lässt“, sagte der griechische Physiker und Mathematiker Archimedes.
Der Glaube an die Messbarkeit erfährt heute mittels Digitalisierung einen enormen Aufschwung: Da die Erfassung, der Transport und die Verarbeitung von Daten nun einfacher als früher sind, weil die entsprechenden Technologien zur Verfügung stehen, wird exponentiell mehr gemessen als früher. Eine globale Datenwolke und damit auch Datenwirtschaft in ungeheurem Ausmaß entsteht. Dabei besteht die Gefahr, dass der Mensch nur noch als Datengenerator wie all die anderen Maschinen in eng verknüpften digitalen Netzwerken gesehen wird. In der Medizin und den Naturwissenschaften versucht man, das menschliche Leben in Form von Algorithmen, also einer Ansammlung an Formeln und Handlungsschritten, zu beschreiben. Schon jetzt bezahlen Bürger mit ihren Daten anstatt mit barem Geld, wenn sie im Internet Gratisdienstleistungen nutzen. Und auch bei bezahlten Dienstleistungen, man denke an online gebuchte Flüge, kommt man nicht umhin, seine Daten zu verschenken.
„Daten sind das neue Gold“, heißt es heute zynisch. Doch kann wirklich alles in Daten gepresst werden oder ist das nur eine Illusion? Komplexe Dinge, etwa wie gut ein Team zusammenarbeitet, welche Wirkung eine soziale Maßnahme hat, lassen sich nur schwer in Zahlen ausdrücken. Bereits bei Bildungstests und Schulnoten beginnt das Dilemma. Vielfach verfälschen scheinbar klare Daten das Bild oder sind sogar höchst manipulativ.
Vieles von dem, was in Gesellschaft und Wirtschaft wesentlich ist, ist nicht messbar. Menschliches Bewusstsein, das Gewissen, die Empathie befinden sich häufig außerhalb des Rasters. Genau solche Fähigkeiten haben dem Menschen jedoch jahrtausendelang gegenüber anderen Lebewesen einen Überlebensvorteil beschert. „Der Mensch ist die einzige Spezies auf der Erde, die fähig ist, in großer Zahl flexibel zusammenzuarbeiten, und das sogar mit Fremden“, schreibt der israelische Historiker Yuval Noah Harari in seinem Buch „Homo Deus“. Sogar in Kriegen sei Kooperation zwischen Menschen letztlich wichtiger gewesen als Maschinen und Technik. Die soziale Dimension von Fortschritt und Innovation wird krass unterschätzt, auch weil sie so schwer messbar ist.