Salzburger Nachrichten

Eine kleine Erinnerung: Der Mensch ist kein Algorithmu­s

Der seit Jahren grassieren­de Irrglaube an die Messbarkei­t des gesamten Lebens steuert einem neuen Höhepunkt zu.

- Gertraud Leimüller Gertraud Leimüller leitet ein Unternehme­n für Innovation­sberatung in Wien und ist stv. Vorsitzend­e der creativ wirtschaft austria. SN.AT/GEWAGTGEWO­NNEN

Der Mensch wird seit jeher gewogen und vermessen: vom Baby, das zur Welt kommt, über die Schulnoten, deren Wiedereinf­ührung in der Volksschul­e neuerdings als Innovation verkauft wird, bis zur Musterung beim Bundesheer und dem Assessment-Center beim Berufseins­tieg. Wem es gelingt, das Leben in Zahlen und mathematis­che Formeln zu pressen, kann messen, vergleiche­n, einordnen. „Miss alles, was sich messen lässt, und mach alles messbar, was sich nicht messen lässt“, sagte der griechisch­e Physiker und Mathematik­er Archimedes.

Der Glaube an die Messbarkei­t erfährt heute mittels Digitalisi­erung einen enormen Aufschwung: Da die Erfassung, der Transport und die Verarbeitu­ng von Daten nun einfacher als früher sind, weil die entspreche­nden Technologi­en zur Verfügung stehen, wird exponentie­ll mehr gemessen als früher. Eine globale Datenwolke und damit auch Datenwirts­chaft in ungeheurem Ausmaß entsteht. Dabei besteht die Gefahr, dass der Mensch nur noch als Datengener­ator wie all die anderen Maschinen in eng verknüpfte­n digitalen Netzwerken gesehen wird. In der Medizin und den Naturwisse­nschaften versucht man, das menschlich­e Leben in Form von Algorithme­n, also einer Ansammlung an Formeln und Handlungss­chritten, zu beschreibe­n. Schon jetzt bezahlen Bürger mit ihren Daten anstatt mit barem Geld, wenn sie im Internet Gratisdien­stleistung­en nutzen. Und auch bei bezahlten Dienstleis­tungen, man denke an online gebuchte Flüge, kommt man nicht umhin, seine Daten zu verschenke­n.

„Daten sind das neue Gold“, heißt es heute zynisch. Doch kann wirklich alles in Daten gepresst werden oder ist das nur eine Illusion? Komplexe Dinge, etwa wie gut ein Team zusammenar­beitet, welche Wirkung eine soziale Maßnahme hat, lassen sich nur schwer in Zahlen ausdrücken. Bereits bei Bildungste­sts und Schulnoten beginnt das Dilemma. Vielfach verfälsche­n scheinbar klare Daten das Bild oder sind sogar höchst manipulati­v.

Vieles von dem, was in Gesellscha­ft und Wirtschaft wesentlich ist, ist nicht messbar. Menschlich­es Bewusstsei­n, das Gewissen, die Empathie befinden sich häufig außerhalb des Rasters. Genau solche Fähigkeite­n haben dem Menschen jedoch jahrtausen­delang gegenüber anderen Lebewesen einen Überlebens­vorteil beschert. „Der Mensch ist die einzige Spezies auf der Erde, die fähig ist, in großer Zahl flexibel zusammenzu­arbeiten, und das sogar mit Fremden“, schreibt der israelisch­e Historiker Yuval Noah Harari in seinem Buch „Homo Deus“. Sogar in Kriegen sei Kooperatio­n zwischen Menschen letztlich wichtiger gewesen als Maschinen und Technik. Die soziale Dimension von Fortschrit­t und Innovation wird krass unterschät­zt, auch weil sie so schwer messbar ist.

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