Kein Grund zur Sorge? Leider doch.
ÖVP und FPÖ machen exakt jene Sozialpolitik, die sie versprochen haben. Na und? Kritisierenswert sind andere Begleitumstände der Regierungsbildung.
Wie Montag vor einer Woche, dem Tag der Angelobung der neuen türkis/schwarz-blauen Regierung, mit freiem Auge ersichtlich, hielten sich die anlassbedingten Proteste – anders als 2000 bei Schwarz-Blau I – in Grenzen. Was allseits als ein Indiz dafür gewertet wurde, dass sich Europa und also auch Österreich nach zahlreichen einschlägigen EU-weiten Präzedenzfällen an die Beteiligung einer Rechtspartei in der Regierung gewöhnt haben.
Das Erlahmen der Proteste, noch ehe sie so richtig begonnen haben, kann freilich auch dem Umstand geschuldet sein, dass die Wählerinnen und Wähler in ihrer Mehrheit das bekommen haben, wofür sie zur Wahlurne geschritten sind. Anders als Wolfgang Schüssel, der sich seinerzeit als Obmann der drittstärksten Partei in den Kanzlersessel geschwungen hatte, ist Wahlsieger Sebastian Kurz mit einer Kanzler-Legitimität versehen. Fast 60 Prozent der Menschen haben bei der Wahl ÖVP oder FPÖ angekreuzt. Jetzt haben diese beiden Parteien eine Regierung gebildet. Punkt.
Und noch ein Umstand mag dafür ausschlaggebend sein, warum sich die Proteste von links der Mitte gegen die rechts der Mitte angesiedelte Regierung in Grenzen hielten: Die beiden Parteien setzen exakt das um, was sie im Wahlkampf versprochen haben. Sebastian Kurz etwa trommelte landauf, landab, er werde sich für die „Leistungsträger“einsetzen. Beziehungsweise für jene, „die Steuern zahlen“. Und große Überraschung: Genau das passiert jetzt. Der Kinderbonus beispielsweise kommt jenen zugute, die immerhin so viel verdienen, dass sie einkommenssteuerpflichtig sind. Das müssen beileibe keine Großverdiener sein, im Gegenteil, die Steuerpflicht schlägt auch schon bei kleinen Einkommen zu. Aber dennoch: Die Ärmsten, die Mindestsicherungsbezieher, Studenten und Kleinstverdiener, haben nichts davon. Das ist für die einen gleichbedeutend mit sozialer Kälte. Für die anderen mit Logik: Wer keine Steuern zahle, könne nach den Gesetzen der Logik auch nicht von einer Steuerentlastung profitieren.
Das Gleiche gilt für den Beschluss, die Sozialversicherungsbeiträge auf kleine Arbeitseinkommen zu senken. Was nach den Gesetzen der Logik mit sich bringt, dass jemand, der mangels Einkommen auch keine Sozialversicherungsbeiträge zahlt, nichts von dieser Maßnahme hat. Etwa die alleinerziehende Mutter, die mit der Mindestsicherung darbt. Auch das mag man als unsozial anprangern. Es entspricht aber allen Ansagen, die Kurz und die Seinen im Wahlkampf getätigt haben. Mag sein, dass sie von vielen sogar dafür gewählt worden sind. Die ÖVP schneiderte, wie ihren Wählern klar war, ein Programm für die Sozialstaat-Nettozahler und nicht für die Nettoempfänger. Kein Wähler wurde getäuscht, niemand wurde belogen. In fünf Jahren können die Wählerinnen und Wähler eine Kursänderung vornehmen. Das nennt man Demokratie.
Weit mehr Anlass zur Sorge bieten andere Entwicklungen, die am Rande der Regierungsbildung geschahen und daher auch nur am Rande registriert wurden. Die Installierung von Generalsekretären in den Ministerien beispielsweise wird zu einer erheblichen Parteipolitisierung in den einzelnen Ressorts führen. Denn der Job des Generalsekretärs, der den beamteten Sektionschefs Weisungen erteilen kann, wird nicht öffentlich ausgeschrieben, der Minister kann jede beliebige Vertrauensperson mit dieser Machtposition betrauen und sichert sich dadurch ein politisches Durchgriffsrecht, von dem frühere Minister nur träumen konnten. Ob das die Österreicher, als sie am 15. Oktober zur Urne schritten, wirklich wollten?
Auch was Norbert Steger dieser Tage im lockeren Geplauder mit Journalisten äußerte, macht hellhörig. Steger war einst freiheitlicher Parteichef und Vizekanzler, ehe er 1986 von Jörg Haider hinweggeputscht wurde. Heute hat er seinen Frieden mit der FPÖ gemacht, er sitzt für seine alten Parteifreunde im ORF-Stiftungsrat, wird als dessen nächster Vorsitzender gehandelt und zerbricht sich seit Monaten den Kopf über eine Reform des ORF-Gesetzes. Dieser Steger also vertrat im Journalistengespräch die Auffassung, ORF-Journalisten müssten einen „respektvollen“Umgang mit Politikern pflegen. Da die ORF-Kollegen ihre Interviewpartner ja schon bisher respektiert und keineswegs mit Verbalinjurien belegt haben, würde man zu gern wissen, was Steger unter „respektvoll“versteht. Etwa: Keine kritischen Fragen mehr zu stellen? Scheint so, denn dem ORF-Interviewer Armin Wolf richtete Steger ungnädig aus, er habe sich beim Interview mit der neuen Regierungsspitze „unbotmäßig“benommen. Was soll das nun wieder heißen? Wünschen Herr Steger botmäßige Anfragen, vielleicht vorher submissest beim Pressesprecher eingereicht, statt kritischer Interviews?
Wir fassen zusammen: Der Medien-Guru der Regierungspartei FPÖ wünscht sich respektvolle und botmäßige Journalisten. Das hätte Erdoğan nicht besser sagen können. Und es ist beunruhigender als die banale Tatsache, dass die Regierung darangeht, die Steuerund Sozialpolitik, die sie im Wahlkampf versprochen hat, nun auch umzusetzen.
Kein Wähler wurde getäuscht, niemand wurde belogen