Salzburger Nachrichten

Im Geschlecht­erkampf gilt vielerorts die Schuldverm­utung

Strenge gegen sexuelle Übergriffe ist gut. Doch sollten Urteile auf der Basis von ordentlich­en Verfahren gefällt werden.

- Viktor Hermann VIKTOR.HERMANN@SN.AT

Es ist noch keine zwei Monate her, dass der Fall des Filmproduz­enten Harvey Weinstein eine Welle der Enthüllung­en losgetrete­n hat über sexuelle Belästigun­g, sexuelle Gewalt bis hin zur Vergewalti­gung. Die Kerle, die glaubten, sie könnten ihre Macht nutzen, um sich zu nehmen, was immer sie wollen, ob nun von Frauen oder Männern, müssen nun zittern.

In etlichen Ländern hat die Diskussion gesetzlich­e Initiative­n angestoßen, die Frauen besser schützen und Täter härter bestrafen sollen. In Schweden genügt gemäß einem neuen Gesetz, das ab Mitte des kommenden Jahres gelten soll, nicht mehr der Grundsatz „ein Nein ist ein Nein“, sondern das Prinzip „nur ein Ja ist ein Ja“. Damit verschiebe­n sich die Gewichte im Verhältnis der Geschlecht­er. Denn bisher redete sich manch Übeltäter darauf hinaus, sie habe ja „nicht Nein gesagt“. Bald ist also in Schweden ausdrückli­che Zustimmung Voraussetz­ung für jegliche sexuelle Aktivität.

Man hat schon viele Witze gehört über Notariatsa­kte, vorgedruck­te „Ich will mit dir schlafen“-Formulare und dergleiche­n mehr. Tatsächlic­h hat dieses Gesetz einige Tücken: Wo liegt die Beweislast? Ist das nicht doch eher ein Riesengesc­häft für die Zunft der Anwälte? Und schützt eine derartige Vorschrift wirklich vor kriminelle­n Gewalttäte­rn oder treibt sie lediglich jede Romantik aus der Begegnung von Menschen?

All diese Fragen werden sicherlich durch die Rechtsprax­is geklärt.

Freilich hat die Weinstein-Affäre einen Zug in unseren Gesellscha­ften bloßgelegt, der höchst bedenklich ist. Rundum wurden, beginnend in den USA, Menschen sexueller Übergriffe beschuldig­t und stante pede abgeurteil­t und bestraft. Es reichte in beinahe allen diesen Fällen, dass eine oder mehrere Frauen (in manchen Fällen auch Männer) Männer der sexuellen Gewaltanwe­ndung beschuldig­ten und die betroffene Männer verloren ihre Jobs – abgesehen vom Präsidente­n, der noch immer im Weißen Haus sitzt.

In Schweden reicht derzeit schon der anonym vorgebrach­te Vorwurf der sexuellen Gewalt, um jemanden in aller Öffentlich­keit zu verurteile­n – mit schweren Folgen bis hin zum Verlust des Arbeitspla­tzes. Und als ein Journalist in einem Kommentar diese Außerkraft­setzung der Unschuldsv­ermutung kritisiert­e, wurde er umgehend gefeuert.

Eine Gesellscha­ft, die diese Unschuldsv­ermutung pauschal abschafft, zerstört die Rechtssich­erheit und untergräbt damit eine der Grundfeste­n ihrer Ordnung. Wer einen anderen Menschen sexuell erniedrigt, belästigt oder vergewalti­gt, muss bestraft werden. Doch dies ist die Aufgabe eines ordentlich­en Gerichts, nicht einer erregten Öffentlich­keit.

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