Im Geschlechterkampf gilt vielerorts die Schuldvermutung
Strenge gegen sexuelle Übergriffe ist gut. Doch sollten Urteile auf der Basis von ordentlichen Verfahren gefällt werden.
Es ist noch keine zwei Monate her, dass der Fall des Filmproduzenten Harvey Weinstein eine Welle der Enthüllungen losgetreten hat über sexuelle Belästigung, sexuelle Gewalt bis hin zur Vergewaltigung. Die Kerle, die glaubten, sie könnten ihre Macht nutzen, um sich zu nehmen, was immer sie wollen, ob nun von Frauen oder Männern, müssen nun zittern.
In etlichen Ländern hat die Diskussion gesetzliche Initiativen angestoßen, die Frauen besser schützen und Täter härter bestrafen sollen. In Schweden genügt gemäß einem neuen Gesetz, das ab Mitte des kommenden Jahres gelten soll, nicht mehr der Grundsatz „ein Nein ist ein Nein“, sondern das Prinzip „nur ein Ja ist ein Ja“. Damit verschieben sich die Gewichte im Verhältnis der Geschlechter. Denn bisher redete sich manch Übeltäter darauf hinaus, sie habe ja „nicht Nein gesagt“. Bald ist also in Schweden ausdrückliche Zustimmung Voraussetzung für jegliche sexuelle Aktivität.
Man hat schon viele Witze gehört über Notariatsakte, vorgedruckte „Ich will mit dir schlafen“-Formulare und dergleichen mehr. Tatsächlich hat dieses Gesetz einige Tücken: Wo liegt die Beweislast? Ist das nicht doch eher ein Riesengeschäft für die Zunft der Anwälte? Und schützt eine derartige Vorschrift wirklich vor kriminellen Gewalttätern oder treibt sie lediglich jede Romantik aus der Begegnung von Menschen?
All diese Fragen werden sicherlich durch die Rechtspraxis geklärt.
Freilich hat die Weinstein-Affäre einen Zug in unseren Gesellschaften bloßgelegt, der höchst bedenklich ist. Rundum wurden, beginnend in den USA, Menschen sexueller Übergriffe beschuldigt und stante pede abgeurteilt und bestraft. Es reichte in beinahe allen diesen Fällen, dass eine oder mehrere Frauen (in manchen Fällen auch Männer) Männer der sexuellen Gewaltanwendung beschuldigten und die betroffene Männer verloren ihre Jobs – abgesehen vom Präsidenten, der noch immer im Weißen Haus sitzt.
In Schweden reicht derzeit schon der anonym vorgebrachte Vorwurf der sexuellen Gewalt, um jemanden in aller Öffentlichkeit zu verurteilen – mit schweren Folgen bis hin zum Verlust des Arbeitsplatzes. Und als ein Journalist in einem Kommentar diese Außerkraftsetzung der Unschuldsvermutung kritisierte, wurde er umgehend gefeuert.
Eine Gesellschaft, die diese Unschuldsvermutung pauschal abschafft, zerstört die Rechtssicherheit und untergräbt damit eine der Grundfesten ihrer Ordnung. Wer einen anderen Menschen sexuell erniedrigt, belästigt oder vergewaltigt, muss bestraft werden. Doch dies ist die Aufgabe eines ordentlichen Gerichts, nicht einer erregten Öffentlichkeit.