Musikeraugen sehen mehr
Offenherzig, persönlich, unterhaltsam und spannend: Nikolaus Harnoncourts persönliche Erinnerungen hat Alice Harnoncourt als Buch veröffentlicht. Die Geschichte des Concentus Musicus, angereichert mit unbekannten Details.
WIEN. Als im März 2016 Nikolaus Harnoncourt verstarb, ging ein Gigant des Musiklebens von uns. Schon damals konnte man froh sein, dass der Dirigent, Forscher und Feuergeist neben seinem immensen Schatz an CD-Aufnahmen aus Jahrzehnten auch in Zitaten und Theorien weiterleben würde, denn eine ganze Reihe von Publikationen befasste sich mit dem großen geistigen Erbe. Zweieinhalb Jahre nach dem Tod des Rebellen hat seine Witwe, Alice Harnoncourt, in den Notizen und Essays und anderen Schriften, auch Briefen geblättert, um den Freunden ihres gemeinsamen Lebenswerks die Entstehungsgeschichte des Concentus Musicus Wien in Erinnerung zu rufen. „Ich habe überrascht bemerkt, wie wenig sogar unsere Kollegen über die Zeiten des ,Urconcentus‘ wissen – kein Wunder, es ist ja schon lange her“, schreibt Alice Harnoncourt im Vorwort der überaus lesenswerten Textsammlung.
Wer jemals bei Proben dabei sein durfte oder Aufzeichnungen davon sah, weiß, dass Harnoncourt ein pointierter Redner war, wenn er etwa von den Musikern etwas Bestimmtes hören und Fortschritte erzielen wollte. Und sei es mit herzhaften Vergleichen – die Seinen kannten sich aus. Nun ist das, was der Dirigent in seinen Notizen festhielt, ebenfalls von unverblümter Direktheit und durchsetzt von seinem speziellen Humor. Das macht die Lektüre überaus amüsant und zugleich auch „privat“.
„Mit 14 bis 16 Jahren wurde die Musik immer wichtiger für mich. Da hatte ich die ersten Katastrophen meines gedachten Lebensweges hinter mir: Bildhauerei, Marionetten, Schauspielerei … So platzte ich 1948 als Fremdkörper in die Wiener Akademie für Musik und darstellende Kunst. Ein Fremder unter Fremden“, schreibt er. Und er beschreibt auch die Menschen, die seinen Weg begleiteten, Eduard Melkus oder Josef Mertin, und auch Alice kam früh ins Spiel. „Lizzi (so hieß sie, bis sie 18 Jahre alt war) lernte leicht und spielte sehr früh und gerne Klavier und war schon sehr gut und selbstbewusst …“
Wie staunte der junge Cellostudent über die Schätze in der Akademiebibliothek! Namen wie Orlando di Lasso, Josquin Desprez, Johannes Ockeghem, Heinrich Isaac, Henry Purcell oder Palestrina eröffneten das Reich der vorbachischen Musik, und auch das Interesse an alten Instrumenten wuchs ins Unermessliche. In dieser Zeit wurde auch brav studiert, „um möglichst bald in ein Orchester zu gelangen, als Lebensstelle“. Geld wurde verdient bei Unterhaltungsmusiken für die Besatzungstruppen, Amerikaner und Russen, in den Sommerferien kam der Verdienst im Kurorchester Bad Gastein dazu, „lehrreich, lukrativ, aber anstrengend“, bezeichnet Harnoncourt diese Zeit unter dem „diktatorischen“Dirigenten Hans Schneider.
Auch im Wiener Kammerorchester spielten Nikolaus und Alice, man ging auf Tournee, als Solist erhielt Alfred (Ali) Brendel erste Chancen. Neben „Ali“Brendel waren auch „Fritzi-Teufel“Gulda, „Riki“Federik Mirdita (Regisseur und später Intendant des Salzburger Landestheaters) oder „Utti“Gustav Leonhardt immer wieder im Freundeskreis um die Harnoncourts zu finden, Spitznamen betonen die persönlichen Beziehungen.
Als „wenig ermutigend“empfand Harnoncourt erste Orchestereinsätze wie etwa bei den Wiener Philharmonikern, wohin ihn sein Lehrer als Ersatz befahl: „Heute spielst Du für mich ,Salome‘. Geh eine Stunde früher hin und schau Dir die Noten an.“Ein Albtraum für den jungen, unbedarften Cellisten, doch der Dirigent merkte nichts. „Karl Böhm kommt und zuckt undefinierbar mit dem Oberkörper herum, ein paar Handbewegungen, auch eher hektisch zuckend, ich weiß nie, wo die Eins ist … schwimme irgendwie im Strom mit.“
Ja, die Dirigenten, die sind ein großes Thema, denn ein berühmter wurde der erste und einzige Chef des Nikolaus Harnoncourt. Herbert von Karajan, Chefdirigent der Wiener Symphoniker. „Der Musikstudent ist wie jeder Konzertbesucher fasziniert von der Autorität des kleinen, drahtigen Dirigenten. Aber wieso nennt er sich ,von‘, wo doch der Adel in Österreich 1918 abgeschafft worden war?“, fragt sich der aus altem Adel stammende Harnoncourt und beschreibt das „Gemetzel“, also das Vorspielen um die Cellistenstelle. Karajan saß am „Gerichtstisch“, als „ich mich setzte, hörte ich ihn in seiner charakteristischen Murmelsprache: ,Wie sich der schon hinsetzt, den nehm ich …‘“Und er bekam die Stelle. Und war überglücklich, in Wien bleiben zu können und den großen Karajan zum Chef zu haben.
Da schreibt Harnoncourt einerseits von beglückenden Probenerfahrungen, von Aufführungen, einem Beethoven-Zyklus, der „gehört für mich zu den größten und bleibenden Eindrücken“, ebenso die Aufführungen der Requiems von Mozart, Brahms, Verdi. Und anderseits lästert er ungeniert: „Schon das Proberitual war besonders: Herr von Mattoni (Karajans Sekretär) im tadellosen Anzug, alles frisch gebügelt“, erscheint fast lautlos und „sagt leise, devot und autoritär aus einer Eau-de-CologneWolke: ,Der Herr von Karajan‘. Augenblicklich wird es still, und Karajan federt herein – seine Kleidung mitleiderregend, ungebügelte, zu enge Hosen, ungepflegter, oft ausgefranster, manchmal löchriger Pullover (ich bin ganz sicher, alles bewusst kalkuliert: der Betreuungsinstinkt der bewundernden Frauen sollte auf die Spitze getrieben werden) – aber andererseits: die Haare! Jeden September mit Spannung erwartet: Wie ist es heuer?? Glatt nach hinten mit Pomade, senkrecht nach oben und leicht gebogen etc. etc., jedes Haar wusste, wohin es gehört, und natürlich das vorderste Schöpfchen halbkreisförmig nach vorne gebogen, toll …“
Viele Seiten später erklärt Nikolaus Harnoncourt deutlich, wie es zum legendären Zerwürfnis mit Karajan kam, dass ein niederträchtiger, „gefälschter“Zeitungsartikel den Keil zwischen die zwei Musikgenies trieb, der bis an Karajans Lebensende hielt. Aber das ist nur ein Kapitel unter vielen, und genauso interessant ist zu lesen, wie Harnoncourt nach 17 Jahren als Orchestercellist beschloss, dem „Leiden“ein Ende zu machen und sich ab dann voll auf den zunehmend blühenden und berühmter werdenden Concentus zu konzentrieren. Schritt für Schritt schildert er die Geschichte des Ensembles und seiner Mitglieder, die Jagd nach alten Instrumenten, auch die frühen Amerika-Tourneen des Concentus klingen abenteuerlich. Was für eine Gemeinschaft!
Essays zu speziellen Themen wie der Auseinandersetzung mit der besserwisserischen Musikwissenschaft und ihren verhärteten Vertretern sind ebenso herzhaft verfasst wie die „nette“Sammlung von erzürnten (nicht abgeschickten) Briefen, die Harnoncourt empört an diverse Chefredakteure schrieb. „Haben Sie schon alle echten Musikkritiker entlassen oder wollen Sie diesen Herrn XX ausgerechnet an Bach oder an mir testen? Weder Bach noch ich haben uns diesen Mann verdient!“
Ja, streitbar war Nikolaus Harnoncourt, das tönt immer wieder durch. Und ein glänzender Erzähler, immer für Überraschungen gut.
„Es ist ein sehr privates Buch über die Familie Harnoncourt geworden.“Alice Harnoncourt, Geigerin