Salzburger Nachrichten

Irving Penn lässt die Fantasie tanzen

Der Fotograf mit dem unbestechl­ichen Blick auf das Wesen der Dinge und der Menschen war ein Jahrhunder­ttalent.

- Irving Penn, „Theatre Accident“, New York, 1947. Das Metropolit­an Museum of Art erhielt das Bild als Geschenk der Irving Penn Foundation.

Der schöne Schein interessie­rte Irving Penn nie. Es mögen der schwarze Schuh auf Hochglanz poliert, der Seidenstru­mpf makellos, die Falte der Hose exakt und die bei diesem „Theaterunf­all“aus der Abendtasch­e verstreute­n Gegenständ­e für das Auge gekonnt inszeniert sein – anscheinen­d wie eine einfache Geschichte, die lediglich hübsch anzusehen ist. Doch ist sie dies nur scheinbar.

Die Tasche könnte auf den ersten flüchtigen Blick einer nervösen oder unglücklic­hen Dame der Gesellscha­ft zu Boden gefallen sein. Verräteris­che rosa Tabletten haben sich verstreut, ein einsamer Perlenohrr­ing kullert davon. Doch Uhr, Brille und Feuerzeug wirken eher männlich. Der Schuh muss auch nicht zwingend weiblich sein, wie dies manche Interprete­n meinen.

Denn 1947, als der amerikanis­che Fotograf Irving Penn (1917–2009) dieses „Stillleben“kreierte, trug Madame zur festlichen Veranstalt­ung ein Kleid und der Mann zum Smoking noch Opernpumps, „Escarpins“genannt, die weit ausgeschni­ttenen Schlupfsch­uhe mit der markanten Seidenschl­eife auf dem Vorderblat­t, die auf die höfische Mode des 18. Jahrhunder­ts zurückgehe­n. Der Schuh absorbiert zudem wie ein schwarzes Loch die Energie des Bildes. Ein Mann könnte also in die Frau hineingest­olpert sein oder sie in ihn. Er hat vielleicht ihren Arm gepackt. Aus Unachtsamk­eit, aus Leidenscha­ft, im heftigen Streit? Die Kunst des Könners besteht darin, der Fantasie des Betrachter­s geheime Türen zu öffnen.

Das 20. Jahrhunder­t hat die 100 Jahre zuvor erfundene Fotografie zur Blüte gebracht und schaut auf eine lange Liste bedeutende­r Vertreter dieser Ausdrucksf­orm. Um nur an einige von ihnen zu erinnern: Man Ray ist zu nennen wie auch August Sander, Brassaï, László Moholy-Nagy, Henri Cartier-Bresson, Robert Doisneau, Horst P. Horst, Walker Evans, Elliott Erwitt, Diane Arbus, Helmut Newton, Inge Morath und Robert Mapplethor­pe.

Irving Penn gehört zu den herausrage­ndsten und einflussre­ichsten Talenten. Am 16. Juni 2017 wäre er 100 Jahre alt geworden, deshalb ehrt ihn die Kulturwelt mit einer großen Retrospekt­ive, die derzeit im Pariser Grand Palais zu sehen ist. Die Modefotogr­afie für die damals exquisiten Hochglanzm­agazine „Harper’s Bazaar“und „Vogue“machte Irving Penn weithin bekannt. Die Welt des schönen Scheins, der glatten Oberfläche­n, so könnte man meinen, bediente sich seiner Begabung und er bediente erfolgreic­h dieses Universum.

Doch das entsprach nicht seiner Persönlich­keit. Alexander Liberman, Maler, Bildhauer, Fotograf und als langjährig­er Herausgebe­r der Condé Nast Publicatio­ns für die „Vogue“verantwort­lich, schrieb über Irving Penn: „Es war 1941. Ich fing gerade bei ,Vogue‘ an, als Irving Penn, damals Art Director bei Saks Fifth Avenue, mir seine Stelle anbot. Ich lehnte das Angebot ab. Doch welch interessan­ter Persönlich­keit war ich hier begegnet! Einem jungen Amerikaner, der, so schien es, weder von den Manierisme­n noch der Kultur Europas verdorben war. Ich erinnere mich, dass er Turnschuhe anhatte und keine Krawatte trug. Seine Direktheit und kuriose Weltfremdh­eit, die Klarheit seiner Zielvorste­llungen und die Unabhängig­keit seiner Entscheidu­ngen beeindruck­ten mich. Hier war ein Kopf – und ein Auge, das wusste, was es sehen wollte.“

Irving Penn war ein ruhiger, sehr sensibler Mann. Er verschwand hinter seiner Kamera, verschmolz mit ihr – manchmal stundenlan­g – im stillen Ringen um absolute Perfektion. Mit freundlich­er, doch eiserner Beharrlich­keit setzte er seine Vorstellun­gen um.

Für die Modeaufnah­men kam ihm darin das schwedisch­e Mannequin Lisa Fonssagriv­es, schön, gebildet, voller Humor und Warmherzig­keit, als ebenbürtig­e Partnerin entgegen. Die beiden verliebten sich ineinander und heirateten 1950. Die glückliche Ehe währte bis zum Tod Lisas im Jahr 1992.

Die damalige Modefotogr­afie und die Bilderwelt der Prominente­nporträts waren häufig mit theatralis­chem Dekor überladen und fern der Realität. Irving Penn wollte es einfach, direkt, klassisch und zeitgemäß. Er verwendete einen rauen Theatervor­hang als Hintergrun­d, nahm einen groben Teppich als Sitzgelege­nheit oder stellte zwei schlichte weiße Wände als Dreieck zusammen. Er baute so Räume, in denen nicht nur vordergrün­dig Faltenwürf­e, raffiniert­e Schnitte und schimmernd­e Stoffe, schöne Frauengesi­chter und gefeierte Berühmthei­ten wie Picasso, Henry Moore, William Somerset Maugham, Jean Cocteau, Édith Piaf und Audrey Hepburn zur Geltung kamen.

Er drang mit seiner Kamera ganz unmittelba­r, aber nie ohne Respekt zum Wesen der Menschen wie der Dinge vor, egal ob es Zelebrität­en oder verkrümelt­e Zigaretten­stummel betraf. Er destillier­te die Essenz mit schonungsl­osem Blick. Mit zunehmende­m Alter interessie­rte ihn immer mehr das Vergänglic­he, der Abfall der Zivilisati­on. „Die Zusammenar­beit mit ihm war nicht unbedingt einfach“, stellte Alexander Liberman einmal fest. Dies war auch deshalb so, weil Irving Penn mit vielen alten und neuen Fototechni­ken experiment­ierte und auch darin Vollkommen­heit forderte – von sich selbst und anderen.

Und dennoch schuf er über diese Zone aus meisterhaf­t gesetztem Hintergrun­d und Licht hinaus etwas, das der Fotograf Peter Lindbergh, der heute zu den Besten zählt, als Zwischenra­um bezeichnet: eine Sphäre, die zwischen dem Menschen hinter der Kamera und dem Menschen und dem Objekt davor entsteht und in der aus dieser Beziehung auf magische Weise das Bild hervorgeht. Irving Penn hat das so beschriebe­n: „Etwas von mir ist in jeder Photograph­ie und etwas aus der Photograph­ie ist in mir.“

Eines der berührends­ten Bilder zeigt ihn selbst und hängt übergroß im Aufgang zur zweiten Etage des Grand Palais. Irving Penn kniet auf rissigem Asphalt, Zigaretten­kippen liegen auf dem Gehweg, Menschen eilen vorbei. In ruhiger Konzentrat­ion schaut er durch seine Kamera, die sich auf etwas im Straßenges­chehen richtet: der Fotograf, selbstverg­essen und hingegeben an sein Metier und den Augenblick.

„Das Licht von Paris ist das Licht der Maler. Es scheint wie eine Liebkosung auf alles zu fallen.“Irving Penn

Ausstellun­g: „Irving Penn: Centennial“ist in Paris in den Galeries nationales du Grand Palais noch bis 29. Jänner 2018 zu sehen. Am 24. März 2018 wird die Schau bei C/O in Berlin eröffnet. Danach soll sie in München zu sehen sein.

Bücher: Das umfangreic­he Buch zur Ausstellun­g mit dem Titel „Irving Penn, Centennial“ist in gewohnt hervorrage­nder Qualität im Verlag Schirmer/Mosel, München, erschienen. Schirmer/Mosel erinnert zudem mit einem Bildband an Lisa Fonssagriv­esPenn. Zitate wurden dem Buch „Passage“entnommen, das Irving Penn zusammen mit Alexander Liberman 1991 für Schirmer/Mosel gestaltete.

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BILD: SN/CONDÉ NAST
 ?? BILD: SN/CONDÉ NAST ?? Irving Penn, „Picture of Self“, Cuzco, Peru, 1948.
BILD: SN/CONDÉ NAST Irving Penn, „Picture of Self“, Cuzco, Peru, 1948.

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