Irving Penn lässt die Fantasie tanzen
Der Fotograf mit dem unbestechlichen Blick auf das Wesen der Dinge und der Menschen war ein Jahrhunderttalent.
Der schöne Schein interessierte Irving Penn nie. Es mögen der schwarze Schuh auf Hochglanz poliert, der Seidenstrumpf makellos, die Falte der Hose exakt und die bei diesem „Theaterunfall“aus der Abendtasche verstreuten Gegenstände für das Auge gekonnt inszeniert sein – anscheinend wie eine einfache Geschichte, die lediglich hübsch anzusehen ist. Doch ist sie dies nur scheinbar.
Die Tasche könnte auf den ersten flüchtigen Blick einer nervösen oder unglücklichen Dame der Gesellschaft zu Boden gefallen sein. Verräterische rosa Tabletten haben sich verstreut, ein einsamer Perlenohrring kullert davon. Doch Uhr, Brille und Feuerzeug wirken eher männlich. Der Schuh muss auch nicht zwingend weiblich sein, wie dies manche Interpreten meinen.
Denn 1947, als der amerikanische Fotograf Irving Penn (1917–2009) dieses „Stillleben“kreierte, trug Madame zur festlichen Veranstaltung ein Kleid und der Mann zum Smoking noch Opernpumps, „Escarpins“genannt, die weit ausgeschnittenen Schlupfschuhe mit der markanten Seidenschleife auf dem Vorderblatt, die auf die höfische Mode des 18. Jahrhunderts zurückgehen. Der Schuh absorbiert zudem wie ein schwarzes Loch die Energie des Bildes. Ein Mann könnte also in die Frau hineingestolpert sein oder sie in ihn. Er hat vielleicht ihren Arm gepackt. Aus Unachtsamkeit, aus Leidenschaft, im heftigen Streit? Die Kunst des Könners besteht darin, der Fantasie des Betrachters geheime Türen zu öffnen.
Das 20. Jahrhundert hat die 100 Jahre zuvor erfundene Fotografie zur Blüte gebracht und schaut auf eine lange Liste bedeutender Vertreter dieser Ausdrucksform. Um nur an einige von ihnen zu erinnern: Man Ray ist zu nennen wie auch August Sander, Brassaï, László Moholy-Nagy, Henri Cartier-Bresson, Robert Doisneau, Horst P. Horst, Walker Evans, Elliott Erwitt, Diane Arbus, Helmut Newton, Inge Morath und Robert Mapplethorpe.
Irving Penn gehört zu den herausragendsten und einflussreichsten Talenten. Am 16. Juni 2017 wäre er 100 Jahre alt geworden, deshalb ehrt ihn die Kulturwelt mit einer großen Retrospektive, die derzeit im Pariser Grand Palais zu sehen ist. Die Modefotografie für die damals exquisiten Hochglanzmagazine „Harper’s Bazaar“und „Vogue“machte Irving Penn weithin bekannt. Die Welt des schönen Scheins, der glatten Oberflächen, so könnte man meinen, bediente sich seiner Begabung und er bediente erfolgreich dieses Universum.
Doch das entsprach nicht seiner Persönlichkeit. Alexander Liberman, Maler, Bildhauer, Fotograf und als langjähriger Herausgeber der Condé Nast Publications für die „Vogue“verantwortlich, schrieb über Irving Penn: „Es war 1941. Ich fing gerade bei ,Vogue‘ an, als Irving Penn, damals Art Director bei Saks Fifth Avenue, mir seine Stelle anbot. Ich lehnte das Angebot ab. Doch welch interessanter Persönlichkeit war ich hier begegnet! Einem jungen Amerikaner, der, so schien es, weder von den Manierismen noch der Kultur Europas verdorben war. Ich erinnere mich, dass er Turnschuhe anhatte und keine Krawatte trug. Seine Direktheit und kuriose Weltfremdheit, die Klarheit seiner Zielvorstellungen und die Unabhängigkeit seiner Entscheidungen beeindruckten mich. Hier war ein Kopf – und ein Auge, das wusste, was es sehen wollte.“
Irving Penn war ein ruhiger, sehr sensibler Mann. Er verschwand hinter seiner Kamera, verschmolz mit ihr – manchmal stundenlang – im stillen Ringen um absolute Perfektion. Mit freundlicher, doch eiserner Beharrlichkeit setzte er seine Vorstellungen um.
Für die Modeaufnahmen kam ihm darin das schwedische Mannequin Lisa Fonssagrives, schön, gebildet, voller Humor und Warmherzigkeit, als ebenbürtige Partnerin entgegen. Die beiden verliebten sich ineinander und heirateten 1950. Die glückliche Ehe währte bis zum Tod Lisas im Jahr 1992.
Die damalige Modefotografie und die Bilderwelt der Prominentenporträts waren häufig mit theatralischem Dekor überladen und fern der Realität. Irving Penn wollte es einfach, direkt, klassisch und zeitgemäß. Er verwendete einen rauen Theatervorhang als Hintergrund, nahm einen groben Teppich als Sitzgelegenheit oder stellte zwei schlichte weiße Wände als Dreieck zusammen. Er baute so Räume, in denen nicht nur vordergründig Faltenwürfe, raffinierte Schnitte und schimmernde Stoffe, schöne Frauengesichter und gefeierte Berühmtheiten wie Picasso, Henry Moore, William Somerset Maugham, Jean Cocteau, Édith Piaf und Audrey Hepburn zur Geltung kamen.
Er drang mit seiner Kamera ganz unmittelbar, aber nie ohne Respekt zum Wesen der Menschen wie der Dinge vor, egal ob es Zelebritäten oder verkrümelte Zigarettenstummel betraf. Er destillierte die Essenz mit schonungslosem Blick. Mit zunehmendem Alter interessierte ihn immer mehr das Vergängliche, der Abfall der Zivilisation. „Die Zusammenarbeit mit ihm war nicht unbedingt einfach“, stellte Alexander Liberman einmal fest. Dies war auch deshalb so, weil Irving Penn mit vielen alten und neuen Fototechniken experimentierte und auch darin Vollkommenheit forderte – von sich selbst und anderen.
Und dennoch schuf er über diese Zone aus meisterhaft gesetztem Hintergrund und Licht hinaus etwas, das der Fotograf Peter Lindbergh, der heute zu den Besten zählt, als Zwischenraum bezeichnet: eine Sphäre, die zwischen dem Menschen hinter der Kamera und dem Menschen und dem Objekt davor entsteht und in der aus dieser Beziehung auf magische Weise das Bild hervorgeht. Irving Penn hat das so beschrieben: „Etwas von mir ist in jeder Photographie und etwas aus der Photographie ist in mir.“
Eines der berührendsten Bilder zeigt ihn selbst und hängt übergroß im Aufgang zur zweiten Etage des Grand Palais. Irving Penn kniet auf rissigem Asphalt, Zigarettenkippen liegen auf dem Gehweg, Menschen eilen vorbei. In ruhiger Konzentration schaut er durch seine Kamera, die sich auf etwas im Straßengeschehen richtet: der Fotograf, selbstvergessen und hingegeben an sein Metier und den Augenblick.
„Das Licht von Paris ist das Licht der Maler. Es scheint wie eine Liebkosung auf alles zu fallen.“Irving Penn
Ausstellung: „Irving Penn: Centennial“ist in Paris in den Galeries nationales du Grand Palais noch bis 29. Jänner 2018 zu sehen. Am 24. März 2018 wird die Schau bei C/O in Berlin eröffnet. Danach soll sie in München zu sehen sein.
Bücher: Das umfangreiche Buch zur Ausstellung mit dem Titel „Irving Penn, Centennial“ist in gewohnt hervorragender Qualität im Verlag Schirmer/Mosel, München, erschienen. Schirmer/Mosel erinnert zudem mit einem Bildband an Lisa FonssagrivesPenn. Zitate wurden dem Buch „Passage“entnommen, das Irving Penn zusammen mit Alexander Liberman 1991 für Schirmer/Mosel gestaltete.