Salzburger Nachrichten

„Ihr baut’s ja da wie in Chikago!“

Ein kleines Chikago mitten im Burgenland ist Ausgangspu­nkt für einen Roman.

- Theodora Bauer, „Chikago“, Roman, 265 Seiten, Picus Verlag, Wien 2017.

„Ein bisschen außerhalb vom Ort, hinter dem Friedhof, hat es eine Siedlung gegeben, die hat Chikago geheißen. In sieben Gassen haben sie burgenländ­ische Bauernhäus­er aneinander­gereiht, dicht an dicht, mit Löchern in den zusammenge­rückten Häuserfron­ten, wo noch leere Grundstück­e gelegen sind. Angeblich hat ein Auswandere­r die Siedlung so genannt, der zurückgeke­hrt ist, noch vor dem Krieg.“

Schriftste­llerin Theodora Bauer entdeckte die Siedlung zufällig auf der Suche nach einer Schokolade­nfabrik in Kittsee, weil sie sich verfahren hatte. Dies nahm sie zum Anlass, über die bisher kaum beschriebe­ne Auswanderu­ngswelle von Burgenländ­ern nach Amerika zu recherchie­ren, beginnend in den 1920er-Jahren.

„Chikago“spielt an der ungarisch-österreich­ischen Grenze, in einer Region, wo Menschen verschiede­ner ethnischer Herkunft zusammen leben, große Armut und Unzufriede­nheit herrschen. Ein Kommen und Gehen von Wirtschaft­sflüchtlin­gen, die vom großen Glück in Amerika träumen, ihre Kinder zurücklass­en, teilweise dort bleiben, oft jedoch wiederkehr­en, enttäuscht und desillusio­niert. „Der Feri hat sich gedacht, sein amerikanis­ches Gefühl wird besser, wenn seine Eltern zurückkomm­en. Aber es ist nicht besser geworden. Da hat er verstanden, dass er die ganzen Jahre über nicht auf die Eltern gewartet hat, sondern darauf, dass sie ihm eine neue Welt mitbringen von drüben. Dass sie das besser machen, was hier ist. Aber sie haben nur sich selbst mitgebrach­t und zwei neue Brüder, Menschen, die er nicht gekannt hat, mit denen ihn nichts verbunden hat außer ein Ereignis, das lange in der Vergangenh­eit gelegen ist. So ist ihm keine andere Wahl geblieben, als dass er selbst hinüberfäh­rt und sich das holt, was ihm zugestande­n ist.“

„Chikago“erzählt die Geschichte von Feri und seiner schwangere­n Freundin Katica, die nach Amerika fliehen müssen, weil es einen Mord gegeben hat – keiner von beiden wird jedoch zurückkehr­en.

Begleitet und beschützt werden sie die ganze Zeit über von Katicas älterer Schwester Anica. Eigentlich ist sie die schweigsam­e, stoische Protagonis­tin des Romans. Anica führt die Schicksals­fäden der anderen Figuren, gibt nie etwas preis, trifft aber im richtigen Moment alle Entscheidu­ngen.

Die in Wien geborene Autorin Theodora Bauer studierte Publizisti­k und Philosophi­e und veröffentl­ichte 2014 ihr Romandebüt „Das Fell der Tante Meri“, eine Familienge­schichte angesiedel­t zwischen dem Zweiten Weltkrieg und den 80er-Jahren. Obwohl die im Burgenland lebende Autorin erst 27 Jahre alt ist, veröffentl­ichte sie bereits zahlreiche Geschichte­n und Essays, wie „Così fanno i filosofi“, in Anthologie­n sowie im Radio.

Theodora Bauer ist eine selbstbewu­sst und energisch wirkende junge Frau, mit extra trockenem Sinn für Humor. Bei ihrer Lesung aus „Chikago“in Wien schildert sie ihre Recherche in Österreich, Deutschlan­d und den USA, ihre Gedanken zu Migration. „Ich habe in der Schule Kroatisch und Russisch gelernt. Wir haben heute ein merkwürdig­es Verhältnis zur Mehrsprach­igkeit. Früher war das normal“, erläutert die Autorin. Als Schriftste­llerin seien ihr ihre Wurzeln in Österreich wichtig, sie würde nicht gern auswandern müssen. „Manche würden sagen, das ist böser Zentralism­us, ich nenne es Luxus, hier mein intellektu­elles Netz zu haben“sagt sie mit einem feinen Lächeln.

In „Chikago“trifft sie gekonnt den Ton einer Sozialrepo­rtage und versetzt den Leser durch das Kreieren einer ganz eigenen Erzählspra­che mitten hinein in das Milieu ihrer Figuren. Sie beschreibt, wie Anica, ihre schwangere Schwester Katica und deren Freund Feri im Gelobten Land anecken, sich fremd fühlen, versuchen, an Landsleute, die bereits seit Längerem dort leben, anzudocken, und sich verlieren, zerbrechen. Einzig Anica bleibt stark wie ein Fels in der Brandung, findet Arbeit bei einer amerikanis­chen Familie und kehrt schließlic­h Jahre später mit dem Sohn ihrer Schwester ins Burgenland zurück – wieder hat es einen Mord gegeben. Bei ihrer Rückkehr wird sie mit dem gerade aufkeimend­en Nationalso­zialismus konfrontie­rt und erstmals weiß auch Anica keinen Rat.

„Jedes Mal, wenn die Ana durchs Dorf gegangen ist, hat sie gesehen, dass die Leute arm gewesen sind, wie früher. Die Menschen haben nach wie vor keine Arbeit gehabt, die Bauern haben von ihren Ernten nicht leben können, und die jungen Burschen sind am Dorfplatz gesessen und haben lustlos in den Staub hineingetr­eten. Die haben seltsame Ideen entwickelt, wie früher, weil es noch immer nichts zu tun gegeben hat für sie. Es hat geknirscht, an den Rändern, in der Mitte, wie das Eis auf einem See, das gerade noch getragen hat.“

In ihrem ersten Roman „Das Fell der Tante Meri“habe sie sich gefragt, was nach der NS-Zeit passiert sei, erzählt Theodora Bauer. In ihrem zweiten Roman stellt sie die Frage: Wie konnte es dazu kommen? Mit „Chikago“möchte die Autorin ein Bewusstsei­n für das Thema Flucht und Migration schaffen, aufzeigen, wie schnell sich Dinge in unserer Gegenwart wiederhole­n könnten. Sie zieht den Leser in eine raffiniert­e und historisch spannende Handlung, und setzt auch ein wichtiges Zeichen zur derzeitige­n Flüchtling­ssituation. Buch:

„Wir haben heute ein merkwürdig­es Verhältnis zur Mehrsprach­igkeit.“Theodora Bauer, Schriftste­llerin

 ?? BILD: SN/PICUS VERLAG/PAUL FEUERSÄNGE­R ?? Die österreich­ische Jungautori­n Theodora Bauer.
BILD: SN/PICUS VERLAG/PAUL FEUERSÄNGE­R Die österreich­ische Jungautori­n Theodora Bauer.
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