„Ihr baut’s ja da wie in Chikago!“
Ein kleines Chikago mitten im Burgenland ist Ausgangspunkt für einen Roman.
„Ein bisschen außerhalb vom Ort, hinter dem Friedhof, hat es eine Siedlung gegeben, die hat Chikago geheißen. In sieben Gassen haben sie burgenländische Bauernhäuser aneinandergereiht, dicht an dicht, mit Löchern in den zusammengerückten Häuserfronten, wo noch leere Grundstücke gelegen sind. Angeblich hat ein Auswanderer die Siedlung so genannt, der zurückgekehrt ist, noch vor dem Krieg.“
Schriftstellerin Theodora Bauer entdeckte die Siedlung zufällig auf der Suche nach einer Schokoladenfabrik in Kittsee, weil sie sich verfahren hatte. Dies nahm sie zum Anlass, über die bisher kaum beschriebene Auswanderungswelle von Burgenländern nach Amerika zu recherchieren, beginnend in den 1920er-Jahren.
„Chikago“spielt an der ungarisch-österreichischen Grenze, in einer Region, wo Menschen verschiedener ethnischer Herkunft zusammen leben, große Armut und Unzufriedenheit herrschen. Ein Kommen und Gehen von Wirtschaftsflüchtlingen, die vom großen Glück in Amerika träumen, ihre Kinder zurücklassen, teilweise dort bleiben, oft jedoch wiederkehren, enttäuscht und desillusioniert. „Der Feri hat sich gedacht, sein amerikanisches Gefühl wird besser, wenn seine Eltern zurückkommen. Aber es ist nicht besser geworden. Da hat er verstanden, dass er die ganzen Jahre über nicht auf die Eltern gewartet hat, sondern darauf, dass sie ihm eine neue Welt mitbringen von drüben. Dass sie das besser machen, was hier ist. Aber sie haben nur sich selbst mitgebracht und zwei neue Brüder, Menschen, die er nicht gekannt hat, mit denen ihn nichts verbunden hat außer ein Ereignis, das lange in der Vergangenheit gelegen ist. So ist ihm keine andere Wahl geblieben, als dass er selbst hinüberfährt und sich das holt, was ihm zugestanden ist.“
„Chikago“erzählt die Geschichte von Feri und seiner schwangeren Freundin Katica, die nach Amerika fliehen müssen, weil es einen Mord gegeben hat – keiner von beiden wird jedoch zurückkehren.
Begleitet und beschützt werden sie die ganze Zeit über von Katicas älterer Schwester Anica. Eigentlich ist sie die schweigsame, stoische Protagonistin des Romans. Anica führt die Schicksalsfäden der anderen Figuren, gibt nie etwas preis, trifft aber im richtigen Moment alle Entscheidungen.
Die in Wien geborene Autorin Theodora Bauer studierte Publizistik und Philosophie und veröffentlichte 2014 ihr Romandebüt „Das Fell der Tante Meri“, eine Familiengeschichte angesiedelt zwischen dem Zweiten Weltkrieg und den 80er-Jahren. Obwohl die im Burgenland lebende Autorin erst 27 Jahre alt ist, veröffentlichte sie bereits zahlreiche Geschichten und Essays, wie „Così fanno i filosofi“, in Anthologien sowie im Radio.
Theodora Bauer ist eine selbstbewusst und energisch wirkende junge Frau, mit extra trockenem Sinn für Humor. Bei ihrer Lesung aus „Chikago“in Wien schildert sie ihre Recherche in Österreich, Deutschland und den USA, ihre Gedanken zu Migration. „Ich habe in der Schule Kroatisch und Russisch gelernt. Wir haben heute ein merkwürdiges Verhältnis zur Mehrsprachigkeit. Früher war das normal“, erläutert die Autorin. Als Schriftstellerin seien ihr ihre Wurzeln in Österreich wichtig, sie würde nicht gern auswandern müssen. „Manche würden sagen, das ist böser Zentralismus, ich nenne es Luxus, hier mein intellektuelles Netz zu haben“sagt sie mit einem feinen Lächeln.
In „Chikago“trifft sie gekonnt den Ton einer Sozialreportage und versetzt den Leser durch das Kreieren einer ganz eigenen Erzählsprache mitten hinein in das Milieu ihrer Figuren. Sie beschreibt, wie Anica, ihre schwangere Schwester Katica und deren Freund Feri im Gelobten Land anecken, sich fremd fühlen, versuchen, an Landsleute, die bereits seit Längerem dort leben, anzudocken, und sich verlieren, zerbrechen. Einzig Anica bleibt stark wie ein Fels in der Brandung, findet Arbeit bei einer amerikanischen Familie und kehrt schließlich Jahre später mit dem Sohn ihrer Schwester ins Burgenland zurück – wieder hat es einen Mord gegeben. Bei ihrer Rückkehr wird sie mit dem gerade aufkeimenden Nationalsozialismus konfrontiert und erstmals weiß auch Anica keinen Rat.
„Jedes Mal, wenn die Ana durchs Dorf gegangen ist, hat sie gesehen, dass die Leute arm gewesen sind, wie früher. Die Menschen haben nach wie vor keine Arbeit gehabt, die Bauern haben von ihren Ernten nicht leben können, und die jungen Burschen sind am Dorfplatz gesessen und haben lustlos in den Staub hineingetreten. Die haben seltsame Ideen entwickelt, wie früher, weil es noch immer nichts zu tun gegeben hat für sie. Es hat geknirscht, an den Rändern, in der Mitte, wie das Eis auf einem See, das gerade noch getragen hat.“
In ihrem ersten Roman „Das Fell der Tante Meri“habe sie sich gefragt, was nach der NS-Zeit passiert sei, erzählt Theodora Bauer. In ihrem zweiten Roman stellt sie die Frage: Wie konnte es dazu kommen? Mit „Chikago“möchte die Autorin ein Bewusstsein für das Thema Flucht und Migration schaffen, aufzeigen, wie schnell sich Dinge in unserer Gegenwart wiederholen könnten. Sie zieht den Leser in eine raffinierte und historisch spannende Handlung, und setzt auch ein wichtiges Zeichen zur derzeitigen Flüchtlingssituation. Buch:
„Wir haben heute ein merkwürdiges Verhältnis zur Mehrsprachigkeit.“Theodora Bauer, Schriftstellerin