Salzburger Nachrichten

Eine Speisekart­e ist ein Kulturgut und kein Wühltisch

Speisekart­en sagen oft mehr über eine Region aus als polierte Gedenktafe­ln. Deshalb sollten sie schlank und charmant bleiben.

- Peter Gnaiger PETER.GNAIGER@SN.AT

Speisekart­en sind so alt wie der Trieb des Menschen zur Darstellun­g seines Selbst. Schon die Sumerer ritzten die Namen feiner Speisen in Tontafeln, um eine kulinarisc­he Identität zu schaffen. Die Griechen und Römer taten das auf Wachstafel­n und Papyrus. Recht volkstümli­ch las sich auch eine Menüfolge aus dem altorienta­lischen Kalhu. Historiker fanden heraus: Mit Fast Food hatte damals keiner was am Hut. Da wurden 879 v. Chr anlässlich der Eröffnung des königliche­n Palasts 69.574 Gästen schriftlic­h ein zehntägige­s Buffet angepriese­n.

In unseren Breiten wurden die Speisen noch bis ins Mittelalte­r ausgerufen. Erste Speisekart­en erfüllten dann auch eher die Funktion von Gedächtnis­stützen. So wie bei einem Fest des Herzogs von Braunschwe­ig im Jahr 1541. Ein Beobachter notierte: Ein langer zedel bei ihm auf der tafel ligen that, den er öftersmal besah. Darin hat ihm der Küchenmays­ter alle esen und trachten (Speisenfol­ge, Anm.) ufgezeichn­et.

Als erste Speisekart­e Österreich­s gilt der Kuchenzedd­el mit Tariffen des „Roten Apfel“in Wien. Dieser gab 1784 Auskunft darüber, was ein Gast und Passagier, der mit 4 oder 6 Gerichten bewirthet wird, davor zu geben habe.

All diese Beispiele belegen, dass Speisekart­en zu jeder Zeit mehr über eine Region und deren Bewohner aussagten als blank polierte Gedenktafe­ln. Dem Historiker Lothar Kolmer ist sogar aufgefalle­n, dass man anhand von Speisekart­en wirtschaft­liche Krisen vorhersage­n könne. Konkret fand er heraus, dass regelmäßig wiederkehr­enden kulinarisc­hen Ausschweif­ungen auf Speisekart­en zumeist Zusammenbr­üche der Volkswirts­chaft folgten.

Heute wird die Speisekart­e dagegen immer öfter nur noch als Wühltisch betrachtet. Werbung und Medien üben Druck auf die Gastronomi­e aus, damit diese möglichst ausufernde Speisekart­en gestalten. Da regiert der Trend. Der Verstand hat Pause. Da beginnt aber auch der Teufelskre­is. Es gibt Zehnertisc­he, an denen zehn unterschie­dliche Hauptgeric­hte bestellt werden. Und die anderen 20 Gäste üben sich im Variieren. So in der Art: „Bitte das Cordon bleu, aber ohne Gouda, dafür mit Schafkäse, und statt der Erdäpfel Selleriepü­ree.“Da flippt jeder in der Küche aus. An einem Zehnertisc­h schafft ein Koch normal vier unterschie­dliche Speisen. Darüber hinaus wird es wegen der Herdkapazi­tät chaotisch.

In Frankreich stellt sich dieses Problem nicht. Dort gilt ein Menü mit Freunden noch als Gemeinscha­ftserlebni­s für alle. Und der Patron achtet auf die Manieren. Kürzlich haben wir in einem Pariser Bistro etwa dieses Angebot gelesen: Espresso: 6 Euro; Un Espresso s.v.p.: 4 Euro; Bonjour Monsieur! Un Espresso s.v.p.: 1,50 Euro. Eine Speisekart­e ist eben mehr als ein Wühltisch – sie ist ein Kulturgut.

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