Warum die Erste Republik scheiterte
2018 jährt sich zum 100. Mal der Tag der Ausrufung der Republik. Die junge Demokratie hatte nicht lang Bestand. Über die Gründe für den frühen Untergang sprachen die SN mit dem Historiker Stefan Karner.
Österreich steht vor einem großen Gedenkjahr. Das Jahr 1918 markiert das Ende von 640 Jahren Habsburgerherrschaft. Im November wurde die Republik ausgerufen. Es sollte eine „umkämpfte Republik“werden – so der Titel des jüngsten von Historiker Stefan Karner herausgegebenen Buchs über die Jahre von 1918 bis 1938. SN: Wie wirkte sich der Zerfall der Habsburgermonarchie auf den Alltag der Österreicher aus? Merkten ein Knecht oder eine Bäuerin am Land davon etwas? Stefan Karner: Ja. In vielerlei Hinsicht. Ein durch Jahrhunderte gewachsenes Imperium wurde zerrissen, Länder wurden getrennt, Eisenbahnlinien unterbrochen, die Versorgungswege gestoppt. Kohle und Holz fehlten. Zehntausende Menschen, vor allem in den größeren Städten und in den Industriezonen, hungerten. Viele sind auf den Straßen und in den kalten Wohnungen erfroren. SN: Es wurde also alles noch schlechter? Der Krieg setzte sich im Friedensalltag der Menschen fort, vielfach noch härter. Zehntausende wanderten nach Übersee aus. Zehntausende Tschechen, vor allem die „Ziegelböhm“, gingen heim, weil Österreich zu den Armenhäusern Europas zählte. Der Absatz für Vieh stockte, Plünderungen am Land standen auf der Tagesordnung. Die Ernten waren schlecht, Knechte waren eingerückt und nun in Gefangenschaft, Chilesalpeter und Kunstdünger waren nicht mehr zu bekommen, Pferde sind beim Militär geblieben. Ochsen und Kühe ersetzten sie auf den Feldern, oft geführt von Kindern, weil auch die gefangenen Russen und Ukrainer nach Hause gezogen sind. SN: War Deutsch-Österreich wirklich der Staat, den keiner wollte? „Keiner“stimmt sicher nicht. Der neue Staat war einerseits der deutschsprachige Rest des Reichs. Mit dem Kleinstaat konnte man sich vielfach nicht abfinden. Andererseits hatte er als demokratische „Republik“etwas durchaus Neues, Revolutionäres, für viele auch Anziehendes. Das weckte Hoffnungen, das Alte, das Verzopfte abschütteln zu können. SN: Wenn man zum Beispiel an die Einführung von Ar- beitslosenversicherung und Kollektivverträgen denkt – wurde die Lage der Menschen 1919/1920 besser? Ja, aber erst mit der Sanierung der Wirtschaft mithilfe der Völkerbund-Kredite, die 1922 Bundeskanzler Ignaz Seipel erfolgreich in Genf ausverhandelt hatte. Und die man dank eines rigorosen Sparkurses und einer anspringenden Konjunktur früher als vereinbart zurückzahlen konnte. Für die Christlichsozialen war eines klar: Verteilen kann man nur das, was man zuvor erwirtschaftet hat. Als man beim Staatsbudget keine Zuwächse mehr erzielte und jährlich den Kuchen selbst neu aufteilen musste, wurden die politischen Auseinandersetzungen härter. Streiks und Kämpfe mit Hunderten Opfern von Gewalt wurden Wegmarken des Innenlebens der Republik. SN: Hätten die politischen Vertreter das Abgleiten in die Diktatur verhindern können, wenn die Sozialdemokraten und die Christlichsozialen zusammengearbeitet hätten? Das ist eine typische „Was wäre Wenn“-Frage. Wir wissen es natürlich nicht. Jedenfalls hätten es die Nationalsozialisten schwerer gehabt, das Land und seine Gesellschaft zu unterwandern, um es zu zerstören. Andererseits wissen wir, dass praktisch jeder 1918 in Zentral-
europa neu geschaffene Staat eine Art von Diktatur annahm, ausgenommen die Tschechoslowakei. Der christlichsoziale Leopold Kunschak hatte im Wiener Gemeinderat vergeblich und fast prophetisch zur Zusammenarbeit der beiden großen Lager aufgerufen, „ehe Volk und Land an Gräbern steht und weint“.
SN: War das Problem, dass man keine Erfahrung mit der Demokratie hatte?
Ja, auch. Doch die Gründe für das Scheitern liegen viel tiefer. Es gibt da keine Patentantwort. Es war sicher ein ganzes Bündel: die breite „Anschluss“-Bewegung Anfang der 1920er-Jahre an das demokratische Deutschland; die Wirtschaftskrise, teils aus den USA importiert, teils hausgemacht; die extrem hohe Arbeitslosigkeit; die breite Verarmung, besonders auf dem Land; kaum berufliche Perspektiven für junge Menschen. Dazu kam ab 1933/34 die psychologische Wirkung des Aufschwungs in Deutschland mit der raschen Beseitigung der Arbeitslosigkeit und die teils euphorischen Berichte österreichischer Gastarbeiter aus Deutschland. Den Preis der NS-Politik erahnte man noch nicht.
SN: Woran scheiterte die Zusammenarbeit der Parteien?
Angebote zur Zusammenarbeit wurden, weshalb auch immer, von beiden Lagern oft aus PartoutStandpunkten zu leichtfertig ausgeschlagen.
Letztlich stellten die führenden Parteien den schnellen Erfolg über das Wohl des Staates. Um ihrer Politik Nachdruck zu geben, hielten sie sich dazu noch paramilitärische Verbände, zahlenmäßig stärker als das Bundesheer. Das Land glich an Sonntagen einem Heerlager.
SN: Wie groß war die Sehnsucht nach dem „Anschluss“an Deutschland? In Salzburg und Tirol wurde 1921 abgestimmt, die Mehrheit war dafür.
Sehr groß. Nicht nur in Salzburg und Tirol. Auch die Steiermark fasste einen Beschluss für eine „Anschluss“-Abstimmung. Und es ist keine Frage, wie diese ausgegangen wäre. Vorarlberg stimmte für einen Beitritt zur Schweiz. Die Republik Deutsch-Österreich erklärte sich 1918 sogar als Teil der Deutschen Republik. Die Sozialdemokraten hatten den „Anschluss“-Paragrafen bis 1933 im Parteistatut.
SN: Die jüngsten Publikationen zum Republiksjubiläum tragen Titel wie „gescheiterte“, „verzweifelte“oder – bei Ihrem Buch – „umkämpfte“Republik. War die Erste Republik all das?
Sie war als Republik und Demokratie umkämpft, in vielen Aktionen wirkte sie verzweifelt. Und sie ist an vielen eigenen Fehlern und am Mangel an Verteidigern der Demokratie und an der Wahl des scheinbar einfacheren, autoritären Wegs 1933 durch Dollfuß gescheitert. Der „Anschluss“1938 an HitlerDeutschland hatte keinen großflächigen Widerstand mehr entfacht.
SN: Wieso gelang nach 1945 das, was nach 1918 nicht gelungen war? Brauchten die Sozialdemokraten und die Christlichsozialen die katastrophalen Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg?
Ja, es waren zweifelsfrei die schmerzlichen Erfahrungen und die Opfer unter den radikalen Diktaturen, die jenen Umkehrprozess ermöglichten, der eine stabile Antithese zum Nationalsozialismus, aber auch zum Kommunismus in Österreich aufbaute.
SN: Wie kommt es, dass knapp hundert Jahre nach Gründung der Republik noch das Bild vom lieben, alten Kaiser Franz Joseph dominiert und nicht das vom Demokratieverweigerer und Kriegsherrn?
Das in Filmen, auf BonbonniereSchachteln und mitunter bei monarchistischen Traditionsfesten tradierte Bild des alten Kaisers taugt zur Befriedigung von verklärten Sehnsüchten. Mit der Realität hat es wenig zu tun. In schwierigen, ungewissen Zeiten haben solche Bilder Konjunktur, weil sich die Menschen nach Halt und einer heilen Welt sehnen, die es jedoch damals sicher nicht gab.
Stefan Karner, Vorstand des Instituts für Wirtschafts-, Sozial- und Unternehmensgeschichte der Universität Graz und Leiter des L.-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung.
„Die führenden Parteien stellten den schnellen Erfolg über das Wohl des Staates.“Stefan Karner, Historiker