Das Königreich taumelt
2017 war für Großbritannien ein turbulentes Jahr: Fünf Terroranschläge, der Brand im Grenfell Tower, eine Parlamentswahl und der Start der Brexit-Verhandlungen bewegten die Menschen.
LONDON. Die Nachrichtensendung am 18. April 1930 begann wie immer um Viertel vor neun am Abend in der BBC. Eine Sache war aber anders. Der Radiosprecher sagte nämlich nur einen Satz: „Es gibt keine Nachrichten.“Die restlichen 15 Minuten wurde Klaviermusik gespielt. Der Gegensatz zum Jahr 2017 könnte krasser nicht sein. Großbritannien hat zwölf bewegte Monate hinter sich.
Allein fünf Terroranschläge treffen das Land. Am 22. März rast ein Mann auf der Westminster-Brücke im Zentrum Londons mit einem Mietwagen auf den Gehsteig, überfährt etliche Menschen und sticht beim Versuch, in den WestminsterPalast einzudringen, einen unbewaffneten Polizisten nieder. Fünf Menschen sterben infolge der Attacke. Im Mai reißt der Extremist Salman Abedi bei einem Selbstmordattentat in Manchester direkt nach einem Popkonzert von Ariana Grande 22 Menschen mit in den Tod, darunter Kinder und Jugendliche. Ein weiterer Terroranschlag trifft London. Dieses Mal überfahren drei radikale Islamisten mit einem Lieferwagen auf der London Bridge etliche Menschen und attackieren im Anschluss mit Messern Passanten und Barbesucher im beliebten Ausgehviertel um den Borough Market. Acht Menschen sterben. Bei einer weiteren Attacke überfährt ein Mann mit einem Van eine Gruppe von Muslimen in London. Viel schlimmer hätte der Anschlag in der Hauptstadt im September ausgehen können, als in einer U-Bahn ein Sprengsatz offenbar nicht komplett explodiert.
Als wären diese Negativmeldungen nicht genug, verlieren im Juni bei einer Brandkatastrophe im Grenfell Tower über 70 Menschen ihr Leben. Mitten in der Nacht verbrennen die Bewohner des Sozialbaus in ihrer Wohnung, bis heute laufen die Untersuchungen.
Während die Briten über Monate mit bewundernswerter Unerschütterlichkeit und Gefasstheit auf Anschläge reagieren, scheint das Inferno die Stimmung nachhaltig zu verändern. Nun handelt es sich nicht um geisteskranke Terroristen. Dieses Mal gibt es Verantwortliche, die fahrlässig die Sicherheit der Bewohner aufs Spiel gesetzt haben.
Auch politisch verläuft 2017 turbulent. Es ist ein schlechtes Omen, als zum Jahresbeginn Großbritanniens EU-Botschafter Sir Ivan Rogers zurücktritt, der erfahrenste EUKenner des Landes. Doch für viele Europaskeptiker hatte er nicht genügend Optimismus verbreitet. Ein Vorwurf, den sich etliche BrexitKritiker im Laufe des Jahres gefallen lassen müssen – ganz so, als würde allein der Glaube an einen positiven EU-Ausstieg zum Erfolg führen.
Im Jänner skizziert Premierministerin Theresa May in ihrer ersten Brexit-Grundsatzrede, wie sich die Regierung den Austritt aus der Gemeinschaft vorstellt: Statt eines Zustands „halb drinnen, halb draußen“strebe das Königreich einen harten Bruch mit Brüssel an, inklusive des Austritts aus dem gemeinsamen Binnenmarkt und der Aufkündigung der Mitgliedschaft in der Zollunion. Nur so könne die volle Kontrolle über die Einwanderungspolitik und die nationale Souveränität zurückgewonnen werden.
Auch wenn May eine klare Strategie vermissen lässt, der Applaus der Brexit-Anhänger ist groß. Offene Ablehnung schlägt ihr dagegen aus Schottland entgegen. Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon fordert ein erneutes Referendum über die Unabhängigkeit des nördlichen Landesteils. May winkt ab und löst lieber am 29. März Artikel 50 des EUVertrags aus, womit sie den Startschuss für den auf zwei Jahre befristeten Austrittsprozess gibt. Ein historischer Moment, mit dem der Anfang vom Ende eingeläutet wird.
Nachdem May monatelang vorgezogene Neuwahlen ausschließt, kündigt sie, die auf einem Umfragehoch schwebt, Mitte April in einer Kehrtwende ebendiese vorgezogenen Neuwahlen an. Der Wahlkampf steht unter dem Motto „stark und stabil“, ist aber letztlich das Gegenteil. In der Folge verlieren die Konservativen ihre absolute Mehrheit. Es ist die Niederlage von Premierministerin Theresa May, deren politische Karriere seitdem oft auf der Kippe stehen soll.
Die Regierungschefin präsentiert sich zäh, bildet eine Minderheitsregierung unter Duldung der nordirischen erzkonservativen Democratic Unionist Party (DUP). Die oppositionelle Labour-Partei unter Jeremy Corbyn feiert sich plötzlich trotz Niederlage als Sieger. Das Brexit-Thema klammern die Sozialdemokraten aber zum Leid vieler EUFreunde fast vollständig aus.
Als die Brexit-Verhandlungen beginnen, folgt der nächste Dämpfer. Die Gespräche mit Brüssel verlaufen zäh. Zu viel Chaos herrscht in Westminster. Erst nachdem May eine weitere Grundsatzrede hält, dieses Mal symbolträchtig im italienischen Florenz, kommt Schwung in die Sache. Die Premierministerin schlägt nicht nur einen deutlich positiveren, versöhnlichen Ton an, sondern auch eine zweijährige Übergangsphase nach dem Austritt vor. Das Grummeln in ihrer konservativen Partei aber hört nicht auf. Beim Parteitag will May zum Befreiungsschlag ausholen, doch vor allem aus gesundheitlichen Gründen geht ihre Ansprache daneben.
Ende des Jahres erschüttert ein Sexismus-Skandal Westminster, einige Parlamentarier sind im Gerede. Doch May zeigt keine harte Hand.
Kurz vor Jahresende darf sich May dann über einen Durchbruch freuen. Brüssel und London werden sich zumindest grob über die wichtigsten Fragen des Brexit einig. Die Gespräche über die künftigen Beziehungen beginnen – und werden 2018 die Briten beschäftigen.