Salzburger Nachrichten

Das Königreich taumelt

2017 war für Großbritan­nien ein turbulente­s Jahr: Fünf Terroransc­hläge, der Brand im Grenfell Tower, eine Parlaments­wahl und der Start der Brexit-Verhandlun­gen bewegten die Menschen.

- Katrin Pribyl berichtet für die SN aus London

LONDON. Die Nachrichte­nsendung am 18. April 1930 begann wie immer um Viertel vor neun am Abend in der BBC. Eine Sache war aber anders. Der Radiosprec­her sagte nämlich nur einen Satz: „Es gibt keine Nachrichte­n.“Die restlichen 15 Minuten wurde Klaviermus­ik gespielt. Der Gegensatz zum Jahr 2017 könnte krasser nicht sein. Großbritan­nien hat zwölf bewegte Monate hinter sich.

Allein fünf Terroransc­hläge treffen das Land. Am 22. März rast ein Mann auf der Westminste­r-Brücke im Zentrum Londons mit einem Mietwagen auf den Gehsteig, überfährt etliche Menschen und sticht beim Versuch, in den Westminste­rPalast einzudring­en, einen unbewaffne­ten Polizisten nieder. Fünf Menschen sterben infolge der Attacke. Im Mai reißt der Extremist Salman Abedi bei einem Selbstmord­attentat in Manchester direkt nach einem Popkonzert von Ariana Grande 22 Menschen mit in den Tod, darunter Kinder und Jugendlich­e. Ein weiterer Terroransc­hlag trifft London. Dieses Mal überfahren drei radikale Islamisten mit einem Lieferwage­n auf der London Bridge etliche Menschen und attackiere­n im Anschluss mit Messern Passanten und Barbesuche­r im beliebten Ausgehvier­tel um den Borough Market. Acht Menschen sterben. Bei einer weiteren Attacke überfährt ein Mann mit einem Van eine Gruppe von Muslimen in London. Viel schlimmer hätte der Anschlag in der Hauptstadt im September ausgehen können, als in einer U-Bahn ein Sprengsatz offenbar nicht komplett explodiert.

Als wären diese Negativmel­dungen nicht genug, verlieren im Juni bei einer Brandkatas­trophe im Grenfell Tower über 70 Menschen ihr Leben. Mitten in der Nacht verbrennen die Bewohner des Sozialbaus in ihrer Wohnung, bis heute laufen die Untersuchu­ngen.

Während die Briten über Monate mit bewunderns­werter Unerschütt­erlichkeit und Gefassthei­t auf Anschläge reagieren, scheint das Inferno die Stimmung nachhaltig zu verändern. Nun handelt es sich nicht um geisteskra­nke Terroriste­n. Dieses Mal gibt es Verantwort­liche, die fahrlässig die Sicherheit der Bewohner aufs Spiel gesetzt haben.

Auch politisch verläuft 2017 turbulent. Es ist ein schlechtes Omen, als zum Jahresbegi­nn Großbritan­niens EU-Botschafte­r Sir Ivan Rogers zurücktrit­t, der erfahrenst­e EUKenner des Landes. Doch für viele Europaskep­tiker hatte er nicht genügend Optimismus verbreitet. Ein Vorwurf, den sich etliche BrexitKrit­iker im Laufe des Jahres gefallen lassen müssen – ganz so, als würde allein der Glaube an einen positiven EU-Ausstieg zum Erfolg führen.

Im Jänner skizziert Premiermin­isterin Theresa May in ihrer ersten Brexit-Grundsatzr­ede, wie sich die Regierung den Austritt aus der Gemeinscha­ft vorstellt: Statt eines Zustands „halb drinnen, halb draußen“strebe das Königreich einen harten Bruch mit Brüssel an, inklusive des Austritts aus dem gemeinsame­n Binnenmark­t und der Aufkündigu­ng der Mitgliedsc­haft in der Zollunion. Nur so könne die volle Kontrolle über die Einwanderu­ngspolitik und die nationale Souveränit­ät zurückgewo­nnen werden.

Auch wenn May eine klare Strategie vermissen lässt, der Applaus der Brexit-Anhänger ist groß. Offene Ablehnung schlägt ihr dagegen aus Schottland entgegen. Ministerpr­äsidentin Nicola Sturgeon fordert ein erneutes Referendum über die Unabhängig­keit des nördlichen Landesteil­s. May winkt ab und löst lieber am 29. März Artikel 50 des EUVertrags aus, womit sie den Startschus­s für den auf zwei Jahre befristete­n Austrittsp­rozess gibt. Ein historisch­er Moment, mit dem der Anfang vom Ende eingeläute­t wird.

Nachdem May monatelang vorgezogen­e Neuwahlen ausschließ­t, kündigt sie, die auf einem Umfragehoc­h schwebt, Mitte April in einer Kehrtwende ebendiese vorgezogen­en Neuwahlen an. Der Wahlkampf steht unter dem Motto „stark und stabil“, ist aber letztlich das Gegenteil. In der Folge verlieren die Konservati­ven ihre absolute Mehrheit. Es ist die Niederlage von Premiermin­isterin Theresa May, deren politische Karriere seitdem oft auf der Kippe stehen soll.

Die Regierungs­chefin präsentier­t sich zäh, bildet eine Minderheit­sregierung unter Duldung der nordirisch­en erzkonserv­ativen Democratic Unionist Party (DUP). Die opposition­elle Labour-Partei unter Jeremy Corbyn feiert sich plötzlich trotz Niederlage als Sieger. Das Brexit-Thema klammern die Sozialdemo­kraten aber zum Leid vieler EUFreunde fast vollständi­g aus.

Als die Brexit-Verhandlun­gen beginnen, folgt der nächste Dämpfer. Die Gespräche mit Brüssel verlaufen zäh. Zu viel Chaos herrscht in Westminste­r. Erst nachdem May eine weitere Grundsatzr­ede hält, dieses Mal symbolträc­htig im italienisc­hen Florenz, kommt Schwung in die Sache. Die Premiermin­isterin schlägt nicht nur einen deutlich positivere­n, versöhnlic­hen Ton an, sondern auch eine zweijährig­e Übergangsp­hase nach dem Austritt vor. Das Grummeln in ihrer konservati­ven Partei aber hört nicht auf. Beim Parteitag will May zum Befreiungs­schlag ausholen, doch vor allem aus gesundheit­lichen Gründen geht ihre Ansprache daneben.

Ende des Jahres erschütter­t ein Sexismus-Skandal Westminste­r, einige Parlamenta­rier sind im Gerede. Doch May zeigt keine harte Hand.

Kurz vor Jahresende darf sich May dann über einen Durchbruch freuen. Brüssel und London werden sich zumindest grob über die wichtigste­n Fragen des Brexit einig. Die Gespräche über die künftigen Beziehunge­n beginnen – und werden 2018 die Briten beschäftig­en.

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BILD: SN/NIROWORLD - FOTOLIA Die Briten entfernen sich von der EU. Nach welchen Regeln, muss im neuen Jahr detaillier­t ausverhand­elt werden.
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