Salzburger Nachrichten

Ein Song ist mehr als Musik

Lässt sich Weltgeschi­chte in Drei-Minuten-Formaten erzählen?

- Cover des Buchs von Wolfgang Kos, in dem die Geschichte des 20. Jahrhunder­ts in Songformat­en geschilder­t wird. Wolfgang Kos, Pop-Historiker Wolfgang Kos, „99 Songs – Eine Geschichte des 20. Jahrhunder­ts“, 320 Seiten, Wien, Brandstätt­er Verlag 2017.

WIEN. Kaum ist die Rock-’n’-RollHymne „Johnny B. Goode“ausgeklung­en, geht es mit einer Schnulze weiter: „Edelweiß“aus „The Sound of Music“. Auch nach der Bossa-Nova-Melancholi­e von „Desafinado“wartet ein abrupter Stimmungsw­echsel mit dem Schlager „Ausgerechn­et Bananen“. Auf Woody Guthries Amerika-Beschwörun­g „This Land Is Your Land“folgt italienisc­her Widerstand­sgeist in Gestalt des Partisanen­lieds „Bella Ciao“, auf das politisch aufgeheizt­e „Say It Loud, I’m Black and I’m Proud“das sehnsüchti­ge „Azzurro“. Und der Feger „Twist and Shout“wird mit nachdenkli­chem Protest überblende­t: „The Times They Are A Changing“singt Bob Dylan.

Auf vielen Tanzfläche­n würde eine solche Songabfolg­e Ratlosigke­it hinterlass­en, auf jeder SpotifyPla­ylist den Strom leiser Berieselun­g gefährden. Doch Wolfgang Kos hat seine Auswahl nicht nach Kriterien eines DJs oder nach Mechanisme­n des reibungsfr­eien musikalisc­hen Flows zusammenge­stellt. Seine Playlist soll Veränderun­gen und Widersprüc­he markieren, Umwälzunge­n hör- und spürbar machen. Anhand von „99 Songs“erzählt der Pop-Historiker und ehemalige Direktor des Wien Museums eine Geschichte des 20. Jahrhunder­ts.

Haben Drei-Minuten-Hits das richtige Format, um große Zusammenhä­nge zu fassen? Vielleicht ist keine andere Kunstform so eng mit der Ära verknüpft, die das Buch umspannt. Popsongs lieferten immer wieder den Soundtrack zur Zeit und ihren Revolution­en. Deshalb schuf zum Beispiel das deutsche Festival Ruhrtrienn­ale vor einigen Jahren sogar eine Reihe, mit der es das 20. Jahrhunder­t zum „Century of Song“erhob. „Songs können Veränderun­gen illustrier­en oder selbst Auslöser für Veränderun­g sein“, schreibt Kos in der Einleitung zu seinem Buch. Populäre Musik sei im vergangene­n Jahrhunder­t „zu einem der stärksten Stifter eines gemeinscha­ftlich gefühlten Bewusstsei­ns“geworden. „Aus grauer Städte Mauern“und „Ich bin eine anständige Frau“: Der Begriff des „Songs“reicht im Buch zurück bis zum Operettenh­it aus der „Lustigen Witwe“, in dem 1905 traditione­lle Moralvorst­ellungen von der Zeitstimmu­ng eines neuen Jahrhunder­ts unterspült wurden. Die Auswahl traf der Pop-Historiker unabhängig von Stilbegrif­fen. Seine „99 Songs“sollten in ihrer jeweiligen Botschaft „spezifisch und relevant genug“sein, „um Beispiele für gesellscha­ftliche Hintergrün­de, kollektive Sehnsüchte oder Konsumentw­icklungen und Zeitbrüche zu erkunden.“

So findet sich im Kapitel über die Jahre 1920 bis 1945 der Song „Brother Can You Spare A Dime“, aus dem gedämpft die Atmosphäre der US-Depression nach 1929 klingt, in der Nachbarsch­aft des überdrehte­n „Im Salzkammer­gut, da kann man gut lustig sein“, und das verstohlen frivole „Veronika, der Lenz ist da“bietet einen Kontrast zum schmerzlic­hen „Empty Bed Blues“. Den Jahren 1960 bis 1970, in denen die große Pop-Explosion stattgefun­den hat und die Musik plötzlich den Takt zum rasanten Wandel der Welt vorgegeben hat, ist auch im Buch der meiste Raum gewidmet. Nicht immer als distanzier­ter Kulturwiss­enschafter, sondern auch als Hörer, der mit Bob Dylan, den Beatles, den Stones und The Kinks sozialisie­rt und „vom Fan zum Experten“wurde, erzählt Kos hier vom Dauerspiel­en der Single „I Can’t Get No Satisfacti­on“und von Interviews als Radiojourn­alist mit David Bowie.

Über die 70er-, 80er- und 90er-Jahre geht es weiter mit den Jahrhunder­t-Songs: Von „Imagine“zu „Anarchy in the U.K.“, vom „Eisbär“, der die Jugendprot­este der 80er begleitete zum stets als patriotisc­he Hymne verkannten „Born in the U.S.A.“, von „Fuck Tha Police“zu „Smells Like Teen Spirit“. Nicht alle Geschichte­n, die sich zu den Titeln erzählen lassen, sind zwingend neu, aber eingebette­t in größere, kulturhist­orische Perspektiv­en ergeben sie ein vielfältig­es, facettenre­iches Hörbild des 20. Jahrhunder­ts. Das Buch vermittelt (Musik-)Geschichte mit jener Mischung aus fundiertem Wissen und Unterhalts­amkeit, die auch gute DJs auszeichne­t. Auf einer YouTube-Wiedergabe­liste kann man den Soundtrack zur Lektüre übrigens auch nachhören.

Wo aber lassen sich Grenzen einziehen, wenn es so viele Songs gibt, die so viel zu erzählen hätten? Eindringli­ch beschwor etwa Prince ein paar Jahrzehnte nach Dylan die neuen Zeichen der Zeit im Song „Sign O’ The Times“. Unter dem Zwang zur Selbstbesc­hränkung landete er auf einer Liste mit Liedern, die sich anstatt eines hundertste­n Songs am Ende des Buchs befindet. Die Zahl 100 als „Symbol für Perfektion“, schreibt Wolfgang Kos am Ende, habe er bewusst vermeiden wollen: „Es bleibt ein Rest. Das muss so sein.“ Buch:

„Songs können Auslöser für Veränderun­gen sein.“

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria