Ein Song ist mehr als Musik
Lässt sich Weltgeschichte in Drei-Minuten-Formaten erzählen?
WIEN. Kaum ist die Rock-’n’-RollHymne „Johnny B. Goode“ausgeklungen, geht es mit einer Schnulze weiter: „Edelweiß“aus „The Sound of Music“. Auch nach der Bossa-Nova-Melancholie von „Desafinado“wartet ein abrupter Stimmungswechsel mit dem Schlager „Ausgerechnet Bananen“. Auf Woody Guthries Amerika-Beschwörung „This Land Is Your Land“folgt italienischer Widerstandsgeist in Gestalt des Partisanenlieds „Bella Ciao“, auf das politisch aufgeheizte „Say It Loud, I’m Black and I’m Proud“das sehnsüchtige „Azzurro“. Und der Feger „Twist and Shout“wird mit nachdenklichem Protest überblendet: „The Times They Are A Changing“singt Bob Dylan.
Auf vielen Tanzflächen würde eine solche Songabfolge Ratlosigkeit hinterlassen, auf jeder SpotifyPlaylist den Strom leiser Berieselung gefährden. Doch Wolfgang Kos hat seine Auswahl nicht nach Kriterien eines DJs oder nach Mechanismen des reibungsfreien musikalischen Flows zusammengestellt. Seine Playlist soll Veränderungen und Widersprüche markieren, Umwälzungen hör- und spürbar machen. Anhand von „99 Songs“erzählt der Pop-Historiker und ehemalige Direktor des Wien Museums eine Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Haben Drei-Minuten-Hits das richtige Format, um große Zusammenhänge zu fassen? Vielleicht ist keine andere Kunstform so eng mit der Ära verknüpft, die das Buch umspannt. Popsongs lieferten immer wieder den Soundtrack zur Zeit und ihren Revolutionen. Deshalb schuf zum Beispiel das deutsche Festival Ruhrtriennale vor einigen Jahren sogar eine Reihe, mit der es das 20. Jahrhundert zum „Century of Song“erhob. „Songs können Veränderungen illustrieren oder selbst Auslöser für Veränderung sein“, schreibt Kos in der Einleitung zu seinem Buch. Populäre Musik sei im vergangenen Jahrhundert „zu einem der stärksten Stifter eines gemeinschaftlich gefühlten Bewusstseins“geworden. „Aus grauer Städte Mauern“und „Ich bin eine anständige Frau“: Der Begriff des „Songs“reicht im Buch zurück bis zum Operettenhit aus der „Lustigen Witwe“, in dem 1905 traditionelle Moralvorstellungen von der Zeitstimmung eines neuen Jahrhunderts unterspült wurden. Die Auswahl traf der Pop-Historiker unabhängig von Stilbegriffen. Seine „99 Songs“sollten in ihrer jeweiligen Botschaft „spezifisch und relevant genug“sein, „um Beispiele für gesellschaftliche Hintergründe, kollektive Sehnsüchte oder Konsumentwicklungen und Zeitbrüche zu erkunden.“
So findet sich im Kapitel über die Jahre 1920 bis 1945 der Song „Brother Can You Spare A Dime“, aus dem gedämpft die Atmosphäre der US-Depression nach 1929 klingt, in der Nachbarschaft des überdrehten „Im Salzkammergut, da kann man gut lustig sein“, und das verstohlen frivole „Veronika, der Lenz ist da“bietet einen Kontrast zum schmerzlichen „Empty Bed Blues“. Den Jahren 1960 bis 1970, in denen die große Pop-Explosion stattgefunden hat und die Musik plötzlich den Takt zum rasanten Wandel der Welt vorgegeben hat, ist auch im Buch der meiste Raum gewidmet. Nicht immer als distanzierter Kulturwissenschafter, sondern auch als Hörer, der mit Bob Dylan, den Beatles, den Stones und The Kinks sozialisiert und „vom Fan zum Experten“wurde, erzählt Kos hier vom Dauerspielen der Single „I Can’t Get No Satisfaction“und von Interviews als Radiojournalist mit David Bowie.
Über die 70er-, 80er- und 90er-Jahre geht es weiter mit den Jahrhundert-Songs: Von „Imagine“zu „Anarchy in the U.K.“, vom „Eisbär“, der die Jugendproteste der 80er begleitete zum stets als patriotische Hymne verkannten „Born in the U.S.A.“, von „Fuck Tha Police“zu „Smells Like Teen Spirit“. Nicht alle Geschichten, die sich zu den Titeln erzählen lassen, sind zwingend neu, aber eingebettet in größere, kulturhistorische Perspektiven ergeben sie ein vielfältiges, facettenreiches Hörbild des 20. Jahrhunderts. Das Buch vermittelt (Musik-)Geschichte mit jener Mischung aus fundiertem Wissen und Unterhaltsamkeit, die auch gute DJs auszeichnet. Auf einer YouTube-Wiedergabeliste kann man den Soundtrack zur Lektüre übrigens auch nachhören.
Wo aber lassen sich Grenzen einziehen, wenn es so viele Songs gibt, die so viel zu erzählen hätten? Eindringlich beschwor etwa Prince ein paar Jahrzehnte nach Dylan die neuen Zeichen der Zeit im Song „Sign O’ The Times“. Unter dem Zwang zur Selbstbeschränkung landete er auf einer Liste mit Liedern, die sich anstatt eines hundertsten Songs am Ende des Buchs befindet. Die Zahl 100 als „Symbol für Perfektion“, schreibt Wolfgang Kos am Ende, habe er bewusst vermeiden wollen: „Es bleibt ein Rest. Das muss so sein.“ Buch:
„Songs können Auslöser für Veränderungen sein.“