Die neue deutsche
Die DSV-Adler haben bei der Vierschanzentournee die Rolle eingenommen, die jahrelang das österreichische Springerteam innehatte. Im ÖSV ist das Selbstverständnis der vergangenen Jahre wie verflogen.
Ernst Vettori hat schon einmal fröhlicher gewirkt. Bei der obligatorischen Auftaktpressekonferenz zur Vierschanzentournee im noblen Hotel Oberstdorf saß der Sportdirektor der ÖSV-Skispringer in der zweiten Reihe auf jenen Stühlen, die eigentlich für Journalisten reserviert waren. Doch viele Plätze, auch die neben Vettori, blieben leer. Das Interesse am österreichischen Springerteam war zweifellos schon einmal größer als vor der 66. Auflage der Tournee.
Eine Stunde zuvor hatte der Deutsche Skiverband zu seiner Pressekonferenz geladen. Viele Jahre glich diese Veranstaltung in Oberstdorf einem Trauerspiel, doch diesmal: lockere Sprüche, Selbstvertrauen, Wir-Gefühl. Der DSV präsentierte sich so, wie man das nur vom ÖSV kannte. Jahrelang Michael Unverdorben berichtet für die SN aus Oberstdorf hatten die Österreicher die Skisprungwelt mit ihrem Selbstverständnis beeindruckt und sieben Tourneesiege en suite gefeiert. Doch nun schwimmen die Deutschen ganz oben auf der Welle.
Vier Weltcupsiege in sieben Saisonspringen haben die DSV-Adler geholt, drei davon der überlegen weltcupführende Richard Freitag. In seinem Windschatten hat sich der 22-jährige Publikumsliebling Andreas Wellinger, in den Augen vieler Skisprungfans ein neuer Martin Schmitt, zu einem Tourneefavoriten hochgeschraubt. Dabei ist die nominelle Nummer eins im Team, Weltmeister Severin Freund, aufgrund einer langen Verletzungspause (zwei Kreuzbandrisse) in der Olympiasaison nicht mit von der Partie.
Der DSV hat dem ÖSV den Rang im Springerzirkus abgelaufen. Die jahrelange Aufbauarbeit des österreichischen Trainers Werner Schuster trägt ihre Früchte. Ein anderer Grund für die deutsche Dominanz könnte der technologische Vorsprung sein. So haben Richard Freitag und Co. bisher von einem Mikrochip auf ihren Skiern profitiert, der – ähnlich wie in der Formel 1 – eine Vielzahl von Daten an das Team liefert. Gemessen wird dabei jedes kleinste Detail, die meisten Daten sind für die Zuschauer weitgehend uninteressant. Für die Trainingssteuerung sind Parameter wie die vertikale und horizontale gar Absprunggeschwindigkeit oder der Öffnungs-, Rotations- und Anstellwinkel der Ski beim Flug aber enorm wertvoll. Das Institut für Angewandte Trainingswissenschaften (IAT) in Leipzig entwickelte diese Sprungauswertung exklusiv für den DSV, die Firma Swiss Timing stellt den Chip, der in einer 30 Gramm leichten roten Dose hinter der Skibindung montiert wird, im Auftrag des Internationalen Skiverbands (FIS) bei der Tournee jetzt für alle Nationen zur Verfügung.
Ob dadurch der Vorsprung der Deutschen schwindet? Tourneefavorit Freitag übt sich in österreichischer Gelassenheit. „Ich gehe dem Ganzen mit einem Lächeln entgegen. Für mich läuft es derzeit super. Ich hatte ein schönes Training. Es kann losgehen“, sagte Freitag mit einer Lockerheit, mit der sonst nur ein Stefan Kraft glänzt.
Der Salzburger scheint vor dem ersten Tourneespringen heute, Samstag (16.30 Uhr), in Oberstdorf auch der einzige ernst zu nehmende Konkurrent für das wieder erstarkte DSV-Team zu sein. Während die Deutschen schon vom ersten Tourneesieg seit Sven Hannawalds „Grand Slam“2001/02 träumen, schlägt man im ÖSV leisere Töne an. „Ich will geduldig bleiben und hoffe, dass bei der Tournee der erste Saisonsieg gelingt“, sagte Kraft, der an Oberstdorf an sich nur gute Erinnerungen haben sollte. „Hier habe ich bereits vier Weltcupsiege feiern dürfen, zwei auf der Schattenbergschanze, zwei auf der Flugschanze“, erklärte Kraft, „aber mir ist auch klar, dass man die Tournee in Oberstdorf nicht gewinnen, mit einem schlechten Wettkampf aber verlieren kann“.
Von seinen eigenen Teamkollegen wird Kraft gemeinsam mit dem weltcupführenden Freitag und „Wundertüte“Wellinger (O-Ton Gregor Schlierenzauer) zum Tourneefavoriten erklärt. „Wenn er so springt wie bei unserem letzten Trainingskurs, kann er das Ding gewinnen“, sagte Schlierenzauer. Und Michael Hayböck ergänzte: „Dorthin, wo der Stefan gesprungen ist, gab es keine Linien mehr.“
Die eigenen Erfolgsaussichten sind gering. „Die Situation heuer ist eine andere. Das ist klar“, meinte Hayböck und sprach damit das an, was man im österreichischen Adlerhorst noch nicht wahrhaben möchte: Das ÖSV-Team fliegt – mit Ausnahme von Stefan Kraft – der Konkurrenz recht deutlich hinterher. Im Nationencup ist man derzeit Vierter, im Gesamtweltcup liegen nur zwei in den Top 20 (Kraft, Fettner). Cheftrainer Heinz Kuttin stellt sich vor sein schwächelndes Team. „Jeder von uns muss jetzt bei der Sache bleiben. Es geht darum, Selbstvertrauen zu tanken, Sicherheit zu bekommen“, meinte Kuttin und setzt seine Hoffnungen darauf, dass das Pendel in einer so sensiblen Sportart wie Skispringen auch schnell wieder in die andere Richtung ausschlagen kann.
Pikanterweise nennt er dafür das Beispiel Deutschland. So sprang Richard Freitag in der vergangenen Saison laut Kuttin „noch im Niemandsland“. Und plötzlich gehört ihm und den deutschen Adlern die ungeteilte Aufmerksamkeit.