Salzburger Nachrichten

Eine Familie lehnt sich gegen ihr Milieu auf

Christophe Boltanski sucht die Ursachen für die nicht heilenden Wunden seiner Familienge­schichte.

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Der Familienro­man trägt schwer am Leiden seiner konservati­ven Einstellun­g. Er berichtet von Aufstieg und Fall über Generation­en hinweg. Deshalb bedient er sich auch üblicherwe­ise der Chronologi­e, um schon in der Form sichtbar zu machen, dass sich die Biografie einer Familie nach einer Linie ausrichtet. Das entspricht der Sehnsucht des Bürgers nach Ordnung und Übersicht.

Was tun, wenn, wie im Fall der Boltanskis, die Familie jedem Anspruch nach Bürgerlich­keit hohnsprich­t? Und wenn ein Teil der Geschichte überhaupt im Dunkeln bleibt? Christophe Boltanski – Neffe des bildenden Künstlers Christian Boltanski – hat Fakten gesammelt. Drei Generation­en stehen im Blickfeld, die Großeltern dominieren das Geschehen, für das der Enkel die Verantwort­ung als Erzähler übernimmt.

Die Chronologi­e löst Boltanski aus zwei Gründen auf. Wenn der Enkel erzählt, richtet er von seiner Gegenwart aus den Blick auf die Vergangenh­eit. Wenn ihm das Verhalten seiner Familie merkwürdig erscheint, liegen die Gründe dafür in früheren Geheimniss­en. Es liegt ein Schleier der Verschwieg­enheit über der Geschichte der Großeltern, den erst eine spätere Generation zu durchdring­en vermag.

Zum anderen verhindert die Erzählweis­e einen Realismus der aufeinande­r folgenden Ereignisse. Boltanski orientiert sich an den Räumlichke­iten eines Bürgerhaus­es. Jedes Zimmer birgt Momente von Bedeutung, und dafür ist jeweils ein eigenes Kapitel vorgesehen. Wenn der Erzähler Raum für Raum aufsucht, entsteht ein Nebeneinan­der, nicht ein Nacheinand­er. Etwas stimmt nicht mit der Familie. Dieser in sich verkrallte Clan demonstrie­rt nach außen Geschlosse­nheit und ist für Einflüsse von außen unzugängli­ch. Außerdem verstößt die Familie strikt gegen bürgerlich­e Konvention­en: „Ihre absonderli­chen Verhaltens­weisen bezeugten eine Ablehnung des guten Benehmens und der Konvention­en. Sie waren Ausdruck der Auflehnung gegenüber ihrem Milieu.“

Einen versteckte­n Raum gibt es, ein architekto­nisches Unding, der sich vor Besuchern geheim halten lässt. In ihm tauchte Großvater unter, als in Paris während der deutschen Besatzung die Jagd auf Juden eröffnet war. Die Familie der Großmutter paktierte mit den neuen Herrschern, das reichte für den Bruch mit ihr. Großvater, einst als Arzt eine geachtete Persönlich­keit, war fortan ein gebrochene­r Mann mit tiefem Misstrauen gegenüber den Menschen. Mit Erniedrigu­ngen bekam er es schon früher zu tun, als seine Karriere mit dem Argument seiner jüdischen Identität vereitelt wurde. Die Kinder spielten lange mit, bis sie sich, um ihre eigene Identität zu leben, aus dem Familienve­rband lösen mussten. Von der Großmutter wird das als Verrat abgetan.

Die Großeltern­generation bildet die Grenze der Geschichte. Was davor liegt, bleibt im Vorfeld des Erfahrbare­n stecken, ist Familienmy­thos. Als es Boltanski als Kriegsberi­chterstatt­er in die Ukraine verschlägt, wo die Wurzeln liegen sollen, bleiben Nachforsch­ungen ergebnislo­s. Die Urgroßelte­rn schafften den Weg in den Westen mit der Hoffnung auf einen Aufstieg, die Großeltern erfuhren den Schock von Ausgrenzun­g, die Eltern setzten einen Neuanfang um den Preis der Auflösung des Zusammenha­lts, ein Enkel sucht die Befreiung durch Klärung der Gedanken.

 ??  ?? Anton Thuswaldne­r Christophe Boltanski: „Das Versteck“, Roman, aus dem Französisc­hen von Tobias Scheffel. 317 S., Hanser, München 2017.
Anton Thuswaldne­r Christophe Boltanski: „Das Versteck“, Roman, aus dem Französisc­hen von Tobias Scheffel. 317 S., Hanser, München 2017.

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