Damit die Demokratie stabil bleibt
Unsere Republik wird demnächst 100 Jahre alt. Sie hat einen guten Weg genommen. Ob der Erfolgsweg fortgesetzt werden kann, hängt von der Politik ab. Also von uns selbst.
1848: Halb Europa ist im Aufruhr gegen absolutistische Fürstengewalt. 1918: Aus den Trümmern der Donaumonarchie entsteht die Republik Österreich. 1938: Die Republik Österreich wird inhaliert vom Hitler-Reich. 1968: Halb Europa ist im Aufruhr gegen die alten Eliten.
Das am kommenden Montag beginnende neue Jahr 2018 bietet eine Fülle von Gedenktagen, von Anlässen, über unser Woher und Wohin zu reflektieren. Die Republik feiert im November ihren 100. Geburtstag. Exakt 80 Jahre ist es her, dass diese Republik wieder von der Landkarte verschwand. Nicht verschwunden waren die dazugehörigen Menschen, von denen allzu viele in den darauf folgenden sieben Jahren zu Opfern oder zu Tätern wurden. Eine schreckliche Zäsur.
Und dennoch: Nimmt man Maß an den beiden Referenzjahren 1918 und 2018, so ist zu konstatieren, dass unsere Republik in diesen 100 Jahren den Weg nach oben beschritten hat. Österreich ist heute reicher, sozial ausgeglichener, friedlicher, als es sich die Menschen vor hundert Jahren träumen ließen. Mehr Bürgerinnen und Bürger als je zuvor gehören dem von realen Existenzängsten befreiten Mittelstand an. Bildung für jedermann ist gratis oder zu einem vergleichsweise niedrigen Tarif zu haben. Die Zahl der Arbeitsplätze geht in die Millionen. Krankenversicherung, Pensionsversicherung und Mindestsicherung spannen ein dichtes Sicherheitsnetz.
Und vor allem: Unser Land ist, wer hätte vor 1945 eine solche Entwicklung erahnt, eine mustergültige Demokratie geworden. Eben erst hat ein Macht- und Regierungswechsel stattgefunden. Die politischen Gewichte haben sich deutlich verschoben. Ohne Aufregung, ohne radikale Töne, ohne geringstes Anzeichen von Gewalt. Eben so, wie es in einer Demokratie üblich ist. Das klingt selbstverständlich, ist es aber in den meisten Ländern dieser Welt keineswegs. Kein Wunder, dass die Menschen in Österreich, wie jüngste Umfragen besagen, mit Optimismus in die Zukunft blicken.
Nur: Das taten sie 1914 auch. Die Jahrzehnte vor der Katastrophe des Ersten Weltkriegs waren eine Epoche der Ruhe und des zunehmenden Wohlstands. Erste sozialstaatliche Gesetze milderten das Leid der werktätigen Massen. Die Gleichberechtigung der Frauen machte deutliche Fortschritte, zumindest in der westlichen Welt. Ein komplexes Bündnissystem zwischen den europäischen Mächten verhieß Stabilität und Frieden. Wie man heute weiß, zerfiel diese schöne Welt aus vergleichsweise nichtigem Anlass wie ein Kartenhaus.
Dennoch tut man gut daran, nach diesem wirtschaftlich so erfolgreichen Jahr 2017 auch dem kommenden Jahr 2018 mit Zuversicht entgegenzublicken. Wenngleich bei allem berechtigten Optimismus eines, leider, außer Streit steht: Die gute Entwicklung, die dieses Land und dieser Kontinent in den vergangenen Jahrzehnten genommen haben, ist nicht unumkehrbar. Wir haben uns unsere Demokratie, unseren sozialen Frieden, unseren Wohlstand, nicht ein für alle Mal erworben. Wir müssen all das schützen und ständig neu erwerben. Denn der Weg nach oben, den wir beschritten haben, kann auch wieder abwärts führen. So wie das in vielen Weltgegenden der Fall ist. Etwa in der Türkei und in Russland, wo autokratische Herrscher die demokratischen Strukturen zerstören. Oder in Polen, gegen das die EU-Kommission bereits ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet hat. Ganz zu schweigen von vielen Teilen Afrikas, wo – wie der SN-Korrespondent dieser Tage berichtet hat – die Demokratie zum Erliegen gekommen ist oder sich sogar ins Gegenteil verwandelt hat.
Der Weg in Richtung Demokratie ist nicht unumkehrbar, er folgt keinem Naturgesetz. Doch das Gleiche gilt für den Weg in die Gegenrichtung. Die Entdemokratisierung, die Ausdünnung des sozialen Zusammenhalts, ist kein zwangsläufiger Prozess, dem wir hilflos ausgeliefert sind. Sondern schlicht und ergreifend die Folge schlechter Politik. Siehe, um nur zwei Beispiele eher willkürlich herauszugreifen, die üble Entwicklung von Ländern wie Simbabwe oder Venezuela. Keine Naturgesetze, sondern korrupte Eliten und machtversessene Regierende sind es, die diese Länder, und viele andere, in den Untergang treiben. Von derlei katastrophalen Szenarien ist Europa meilenweit entfernt. Dessen ungeachtet gilt es wachsam zu bleiben. Denn auch unser Kontinent hat kein Patent auf gute, zukunftsgerichtete, verantwortungsvolle Politik.
Wir erleben, wie eines der größten und bedeutsamsten Industrieländer, das Vereinigte Königreich, planlos aus der EU taumelt. Und können nur hoffen, dass die britische und die europäische Wirtschaft stark genug sind, dieses Debakel zu verkraften. Wir erleben, wie die westliche Führungsmacht, die Vereinigten Staaten, einem irrationalen Grenzgänger ausgeliefert sind. Und können nur hoffen, dass die alte amerikanische Demokratie stark genug ist, dessen Torheiten, die die Welt ins Unglück stürzen können, unbeschadet zu überstehen. Wir Eurobürger erleben Finanzgewaltige, die nicht in der Lage sind, die Gefahren von Finanz- und Investitionsblasen zu bannen, was relativ kurzfristig unseren Wohlstand gefährden kann. Wir Weltbürger erleben Weltgewaltige, die sehenden Auges in die Klimakatastrophe gehen. Wir erleben Atomtests, ausgeführt von einem irren Despoten in Fernost. Wir erleben, vor unserer Haustür in der arabischen Welt, wie ganze Regionen im Chaos versinken. Wir erleben einen Zustrom an Migranten nach Europa, der unser Sozial-, Wohn- und Bildungssystem überfordern muss.
All diese Entwicklungen sind nicht gottund nicht naturgegeben. Sie sind politisch lösbar. Aber nur dann, wenn die Politik über den Tag hinaus- und in genügend großen Dimensionen denkt. „Die Politik“: Das sind im Übrigen nicht nur die Regierenden, von denen Verantwortungsbewusstsein und strategisches Agieren über die Legislaturperiode hinaus eingefordert werden muss. „Die Politik“: Das sind wir alle. Die Opposition, deren Horizont weiter als zur Frage reichen sollte, ob die neue Regierung Noten in den Volksschulklassen einführen möchte. Die Öffentlichkeit, die gut daran tut, Politiker nach ihrem Tun zu bemessen und nicht danach, ob sie sich erlauben, nach ihrer Abwahl drei Monate Gehaltsfortzahlung in Anspruch zu nehmen. Die Medien, deren Erregungspotenzial sich allzu oft an Nebensächlichkeiten entzündet, statt die großen und bedeutsamen Linien zu beobachten. Regierende und Opposition, Medien und Öffentlichkeit haben einen bedeutsamen Beitrag zur Stabilisierung unserer Demokratie, unseres sozialen Zusammenhalts und unserer sonstigen Errungenschaften zu leisten. Das wäre eigentlich ein guter Neujahrsvorsatz.
Der demokratische Fortschritt ist nicht unumkehrbar