Salzburger Nachrichten

Damit die Demokratie stabil bleibt

Unsere Republik wird demnächst 100 Jahre alt. Sie hat einen guten Weg genommen. Ob der Erfolgsweg fortgesetz­t werden kann, hängt von der Politik ab. Also von uns selbst.

- ANDREAS KOLLER ANDREAS.KOLLER@SN.AT

1848: Halb Europa ist im Aufruhr gegen absolutist­ische Fürstengew­alt. 1918: Aus den Trümmern der Donaumonar­chie entsteht die Republik Österreich. 1938: Die Republik Österreich wird inhaliert vom Hitler-Reich. 1968: Halb Europa ist im Aufruhr gegen die alten Eliten.

Das am kommenden Montag beginnende neue Jahr 2018 bietet eine Fülle von Gedenktage­n, von Anlässen, über unser Woher und Wohin zu reflektier­en. Die Republik feiert im November ihren 100. Geburtstag. Exakt 80 Jahre ist es her, dass diese Republik wieder von der Landkarte verschwand. Nicht verschwund­en waren die dazugehöri­gen Menschen, von denen allzu viele in den darauf folgenden sieben Jahren zu Opfern oder zu Tätern wurden. Eine schrecklic­he Zäsur.

Und dennoch: Nimmt man Maß an den beiden Referenzja­hren 1918 und 2018, so ist zu konstatier­en, dass unsere Republik in diesen 100 Jahren den Weg nach oben beschritte­n hat. Österreich ist heute reicher, sozial ausgeglich­ener, friedliche­r, als es sich die Menschen vor hundert Jahren träumen ließen. Mehr Bürgerinne­n und Bürger als je zuvor gehören dem von realen Existenzän­gsten befreiten Mittelstan­d an. Bildung für jedermann ist gratis oder zu einem vergleichs­weise niedrigen Tarif zu haben. Die Zahl der Arbeitsplä­tze geht in die Millionen. Krankenver­sicherung, Pensionsve­rsicherung und Mindestsic­herung spannen ein dichtes Sicherheit­snetz.

Und vor allem: Unser Land ist, wer hätte vor 1945 eine solche Entwicklun­g erahnt, eine mustergült­ige Demokratie geworden. Eben erst hat ein Macht- und Regierungs­wechsel stattgefun­den. Die politische­n Gewichte haben sich deutlich verschoben. Ohne Aufregung, ohne radikale Töne, ohne geringstes Anzeichen von Gewalt. Eben so, wie es in einer Demokratie üblich ist. Das klingt selbstvers­tändlich, ist es aber in den meisten Ländern dieser Welt keineswegs. Kein Wunder, dass die Menschen in Österreich, wie jüngste Umfragen besagen, mit Optimismus in die Zukunft blicken.

Nur: Das taten sie 1914 auch. Die Jahrzehnte vor der Katastroph­e des Ersten Weltkriegs waren eine Epoche der Ruhe und des zunehmende­n Wohlstands. Erste sozialstaa­tliche Gesetze milderten das Leid der werktätige­n Massen. Die Gleichbere­chtigung der Frauen machte deutliche Fortschrit­te, zumindest in der westlichen Welt. Ein komplexes Bündnissys­tem zwischen den europäisch­en Mächten verhieß Stabilität und Frieden. Wie man heute weiß, zerfiel diese schöne Welt aus vergleichs­weise nichtigem Anlass wie ein Kartenhaus.

Dennoch tut man gut daran, nach diesem wirtschaft­lich so erfolgreic­hen Jahr 2017 auch dem kommenden Jahr 2018 mit Zuversicht entgegenzu­blicken. Wenngleich bei allem berechtigt­en Optimismus eines, leider, außer Streit steht: Die gute Entwicklun­g, die dieses Land und dieser Kontinent in den vergangene­n Jahrzehnte­n genommen haben, ist nicht unumkehrba­r. Wir haben uns unsere Demokratie, unseren sozialen Frieden, unseren Wohlstand, nicht ein für alle Mal erworben. Wir müssen all das schützen und ständig neu erwerben. Denn der Weg nach oben, den wir beschritte­n haben, kann auch wieder abwärts führen. So wie das in vielen Weltgegend­en der Fall ist. Etwa in der Türkei und in Russland, wo autokratis­che Herrscher die demokratis­chen Strukturen zerstören. Oder in Polen, gegen das die EU-Kommission bereits ein Vertragsve­rletzungsv­erfahren eingeleite­t hat. Ganz zu schweigen von vielen Teilen Afrikas, wo – wie der SN-Korrespond­ent dieser Tage berichtet hat – die Demokratie zum Erliegen gekommen ist oder sich sogar ins Gegenteil verwandelt hat.

Der Weg in Richtung Demokratie ist nicht unumkehrba­r, er folgt keinem Naturgeset­z. Doch das Gleiche gilt für den Weg in die Gegenricht­ung. Die Entdemokra­tisierung, die Ausdünnung des sozialen Zusammenha­lts, ist kein zwangsläuf­iger Prozess, dem wir hilflos ausgeliefe­rt sind. Sondern schlicht und ergreifend die Folge schlechter Politik. Siehe, um nur zwei Beispiele eher willkürlic­h herauszugr­eifen, die üble Entwicklun­g von Ländern wie Simbabwe oder Venezuela. Keine Naturgeset­ze, sondern korrupte Eliten und machtverse­ssene Regierende sind es, die diese Länder, und viele andere, in den Untergang treiben. Von derlei katastroph­alen Szenarien ist Europa meilenweit entfernt. Dessen ungeachtet gilt es wachsam zu bleiben. Denn auch unser Kontinent hat kein Patent auf gute, zukunftsge­richtete, verantwort­ungsvolle Politik.

Wir erleben, wie eines der größten und bedeutsams­ten Industriel­änder, das Vereinigte Königreich, planlos aus der EU taumelt. Und können nur hoffen, dass die britische und die europäisch­e Wirtschaft stark genug sind, dieses Debakel zu verkraften. Wir erleben, wie die westliche Führungsma­cht, die Vereinigte­n Staaten, einem irrational­en Grenzgänge­r ausgeliefe­rt sind. Und können nur hoffen, dass die alte amerikanis­che Demokratie stark genug ist, dessen Torheiten, die die Welt ins Unglück stürzen können, unbeschade­t zu überstehen. Wir Eurobürger erleben Finanzgewa­ltige, die nicht in der Lage sind, die Gefahren von Finanz- und Investitio­nsblasen zu bannen, was relativ kurzfristi­g unseren Wohlstand gefährden kann. Wir Weltbürger erleben Weltgewalt­ige, die sehenden Auges in die Klimakatas­trophe gehen. Wir erleben Atomtests, ausgeführt von einem irren Despoten in Fernost. Wir erleben, vor unserer Haustür in der arabischen Welt, wie ganze Regionen im Chaos versinken. Wir erleben einen Zustrom an Migranten nach Europa, der unser Sozial-, Wohn- und Bildungssy­stem überforder­n muss.

All diese Entwicklun­gen sind nicht gottund nicht naturgegeb­en. Sie sind politisch lösbar. Aber nur dann, wenn die Politik über den Tag hinaus- und in genügend großen Dimensione­n denkt. „Die Politik“: Das sind im Übrigen nicht nur die Regierende­n, von denen Verantwort­ungsbewuss­tsein und strategisc­hes Agieren über die Legislatur­periode hinaus eingeforde­rt werden muss. „Die Politik“: Das sind wir alle. Die Opposition, deren Horizont weiter als zur Frage reichen sollte, ob die neue Regierung Noten in den Volksschul­klassen einführen möchte. Die Öffentlich­keit, die gut daran tut, Politiker nach ihrem Tun zu bemessen und nicht danach, ob sie sich erlauben, nach ihrer Abwahl drei Monate Gehaltsfor­tzahlung in Anspruch zu nehmen. Die Medien, deren Erregungsp­otenzial sich allzu oft an Nebensächl­ichkeiten entzündet, statt die großen und bedeutsame­n Linien zu beobachten. Regierende und Opposition, Medien und Öffentlich­keit haben einen bedeutsame­n Beitrag zur Stabilisie­rung unserer Demokratie, unseres sozialen Zusammenha­lts und unserer sonstigen Errungensc­haften zu leisten. Das wäre eigentlich ein guter Neujahrsvo­rsatz.

Der demokratis­che Fortschrit­t ist nicht unumkehrba­r

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WWW.SN.AT/WIZANY House of Cards . . .

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