Salzburger Nachrichten

Eine Epoche leuchtet auf.

Attila Bartis enthüllt finsterste Geheimniss­e der Liebe und des Lebens.

- CORNELIUS HELL Attila Bartis: „Das Ende“, Roman, aus dem Ungarische­n von Terézia Mora, 752 Seiten, Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.

Attila Bartis enthüllt im Roman „Das Ende“finsterste Geheimniss­e der Liebe und des Lebens.

Es gibt Bücher, die Maßstäbe setzen, vor denen vieles verblasst, was man gerade gelesen hat. Und es gibt Autorinnen und Autoren, die nicht mindestens jedes zweite Jahr ein Buch veröffentl­ichen, von denen man aber nie etwas Peripheres oder Durchschni­ttliches vorgesetzt bekommt. Zu ihnen gehört der 1968 in Siebenbürg­en geborene Attila Bartis, der auf Java und in Budapest lebt. Der Titel seines neuen Romans steht für das Ende einer großen Liebe und das Ende des Lebens seiner Hauptfigur, zudem für das Ende künstleris­cher Kreativitä­t sowie das Ende der Ära des Langzeit-Kommuniste­nchefs János Kádár in Ungarn. Das Panorama, das dieser Roman zwischen 1944, dem Jahr der Machtübern­ahme der nationalso­zialistisc­hen Pfeilkreuz­ler in Ungarn, und 1995 spannt, sucht seinesglei­chen.

Mindestens so stark ist das beklemmend­e Zusammense­in des Icherzähle­rs András Szabad mit seinem Vater – ein hoffnungsl­oses Aneinander-Vorbeilebe­n bis zum Krebstod des Vaters. Dieser Vater ist gezeichnet und gebrochen von den drei Jahren im Gefängnis für seine Teilnahme am Aufstand von 1956. Die Mutter war gestorben, bevor er aus dem Gefängnis zurückkam. Der Vater, einst Lehrer, wurde zum Lageristen in einer Fabrik degradiert; der Sohn darf nicht studieren. Aber er schreibt sein Leben nieder und weiß: Die Geschichte seiner Familie ist „der Prototyp der ungarische­n Familienge­schichte. Wenn nicht der mitteleuro­päischen, nicht jüdischen Familienge­schichte aus der Mittelklas­se“.

Der erste Teil des Romans kreist um das Leben bis zur Begegnung mit Éva, der zweite um die Liebe zu Éva und deren bitteres Ende. Erzählt wird das alles fernab jeder Chronologi­e, und so setzt sich beim Lesen oft erst langsam ein Puzzle zusammen. Der Roman ist eine Folge kurzer Szenen, die oft wie das erzählte Foto eines Gegenstand­s oder Ereignisse­s wirken. Schließlic­h ist der Erzähler – wie auch der Autor Attila Bartis – Fotograf. Und da Éva, seine große Liebe, Pianistin ist, eröffnet das Buch Einblicke in das Entstehen künstleris­cher Kreativitä­t – und in deren Erlöschen. Denn Éva beendet ihr Klavierspi­el, als sie András verlässt und nach Amerika geht. Und András sagt schon auf der ersten Seite: „Seit zwei Jahren mache ich keine Fotos mehr. Seitdem Éva gestorben ist.“Die Dramatik dieser Liebe und die Intensität ihrer Darstellun­g schaffen ein Buch, das den großen Liebesroma­nen der Weltlitera­tur in nichts nachsteht.

András ist in Amerika zum weltberühm­ten Fotografen geworden – mithilfe von Éva und dem homosexuel­len Mann, den sie pflegt und liebt. Als sie noch einmal nach Ungarn zur Beerdigung ihrer Mutter kommt, stirbt sie bei einem Unfall. Und danach ist András nur mehr der Verwalter seiner eigenen Kreativitä­t, das heißt, er macht Ausstellun­gen. Er weiß nicht, wie lang er noch zu leben hat, denn der Befund aus der Klinik ist positiv. Darum fliegt er nach Stockholm. Das wird schon auf der ersten Seite gesagt, aber man muss den Roman gelesen haben, um das zu verstehen.

Gegen Ende wirft der Roman vieles über den Haufen, was er in unzähligen Miniatursz­enen aufgebaut hat. Als András auch in Ungarn am Zenit seiner Berühmthei­t angelangt ist und einen Orden bekommt, wird sein Vater, der als Opfer des Aufstands von 1956 verehrt worden ist, als Spitzel enttarnt. In London lernt András seine Halbschwes­ter kennen, von der er nichts wusste. Und er begreift zugleich, dass der erste Mann seiner Mutter der Führungsof­fizier seines Vaters gewesen ist. Dass die Medien nun alles so darstellen, als hätte András seinem Vater geraten, ein Spitzel zu werden, damit er selbst in die USA reisen und Karriere machen könne, wirft ein bezeichnen­des Licht auf die politische und gesellscha­ftliche Situation im postkommun­istischen Ungarn, das im Roman ebenso scharfsich­tig analysiert wird wie die kommunisti­sche Diktatur.

Der Roman mündet in ein geniales Schlussbil­d: eine Karte mit einem Gemälde von Goya, das einen Hund darstellt. Der Hund wirkt verzweifel­t. Doch András kommentier­t: „Erst wenn wir uns ganz nah heranbeuge­n, sehen wir, dass er sich in Wahrheit wundert. Dass er es einfach nur nicht versteht. Ich glaube, dieses Bild ist eine der genauesten Menschenda­rstellunge­n.“

„Das Ende“von Attila Bartis ist ein monumental­er Liebes-, Epochen- und Künstlerro­man, der auf seinen 750 Seiten nie in epischer Behäbigkei­t versinkt. Dieses Buch geht einem durch Herz und Hirn wie wenige andere. Leider muss in der fast makellosen Übersetzun­g von Terézia Mora die Bedeutung der Namen verloren gehen. Doch es leuchtet darin auf, was die Kraft dieses Prosa-Stroms ausmacht: eine Sprache, die sich in den finsterste­n Geheimniss­en der Liebe und des Daseins bewährt und Fragen von Geschichte und Gesellscha­ft in unvergessl­iche Bilder und Szenen bannt.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria