Eine Epoche leuchtet auf.
Attila Bartis enthüllt finsterste Geheimnisse der Liebe und des Lebens.
Attila Bartis enthüllt im Roman „Das Ende“finsterste Geheimnisse der Liebe und des Lebens.
Es gibt Bücher, die Maßstäbe setzen, vor denen vieles verblasst, was man gerade gelesen hat. Und es gibt Autorinnen und Autoren, die nicht mindestens jedes zweite Jahr ein Buch veröffentlichen, von denen man aber nie etwas Peripheres oder Durchschnittliches vorgesetzt bekommt. Zu ihnen gehört der 1968 in Siebenbürgen geborene Attila Bartis, der auf Java und in Budapest lebt. Der Titel seines neuen Romans steht für das Ende einer großen Liebe und das Ende des Lebens seiner Hauptfigur, zudem für das Ende künstlerischer Kreativität sowie das Ende der Ära des Langzeit-Kommunistenchefs János Kádár in Ungarn. Das Panorama, das dieser Roman zwischen 1944, dem Jahr der Machtübernahme der nationalsozialistischen Pfeilkreuzler in Ungarn, und 1995 spannt, sucht seinesgleichen.
Mindestens so stark ist das beklemmende Zusammensein des Icherzählers András Szabad mit seinem Vater – ein hoffnungsloses Aneinander-Vorbeileben bis zum Krebstod des Vaters. Dieser Vater ist gezeichnet und gebrochen von den drei Jahren im Gefängnis für seine Teilnahme am Aufstand von 1956. Die Mutter war gestorben, bevor er aus dem Gefängnis zurückkam. Der Vater, einst Lehrer, wurde zum Lageristen in einer Fabrik degradiert; der Sohn darf nicht studieren. Aber er schreibt sein Leben nieder und weiß: Die Geschichte seiner Familie ist „der Prototyp der ungarischen Familiengeschichte. Wenn nicht der mitteleuropäischen, nicht jüdischen Familiengeschichte aus der Mittelklasse“.
Der erste Teil des Romans kreist um das Leben bis zur Begegnung mit Éva, der zweite um die Liebe zu Éva und deren bitteres Ende. Erzählt wird das alles fernab jeder Chronologie, und so setzt sich beim Lesen oft erst langsam ein Puzzle zusammen. Der Roman ist eine Folge kurzer Szenen, die oft wie das erzählte Foto eines Gegenstands oder Ereignisses wirken. Schließlich ist der Erzähler – wie auch der Autor Attila Bartis – Fotograf. Und da Éva, seine große Liebe, Pianistin ist, eröffnet das Buch Einblicke in das Entstehen künstlerischer Kreativität – und in deren Erlöschen. Denn Éva beendet ihr Klavierspiel, als sie András verlässt und nach Amerika geht. Und András sagt schon auf der ersten Seite: „Seit zwei Jahren mache ich keine Fotos mehr. Seitdem Éva gestorben ist.“Die Dramatik dieser Liebe und die Intensität ihrer Darstellung schaffen ein Buch, das den großen Liebesromanen der Weltliteratur in nichts nachsteht.
András ist in Amerika zum weltberühmten Fotografen geworden – mithilfe von Éva und dem homosexuellen Mann, den sie pflegt und liebt. Als sie noch einmal nach Ungarn zur Beerdigung ihrer Mutter kommt, stirbt sie bei einem Unfall. Und danach ist András nur mehr der Verwalter seiner eigenen Kreativität, das heißt, er macht Ausstellungen. Er weiß nicht, wie lang er noch zu leben hat, denn der Befund aus der Klinik ist positiv. Darum fliegt er nach Stockholm. Das wird schon auf der ersten Seite gesagt, aber man muss den Roman gelesen haben, um das zu verstehen.
Gegen Ende wirft der Roman vieles über den Haufen, was er in unzähligen Miniaturszenen aufgebaut hat. Als András auch in Ungarn am Zenit seiner Berühmtheit angelangt ist und einen Orden bekommt, wird sein Vater, der als Opfer des Aufstands von 1956 verehrt worden ist, als Spitzel enttarnt. In London lernt András seine Halbschwester kennen, von der er nichts wusste. Und er begreift zugleich, dass der erste Mann seiner Mutter der Führungsoffizier seines Vaters gewesen ist. Dass die Medien nun alles so darstellen, als hätte András seinem Vater geraten, ein Spitzel zu werden, damit er selbst in die USA reisen und Karriere machen könne, wirft ein bezeichnendes Licht auf die politische und gesellschaftliche Situation im postkommunistischen Ungarn, das im Roman ebenso scharfsichtig analysiert wird wie die kommunistische Diktatur.
Der Roman mündet in ein geniales Schlussbild: eine Karte mit einem Gemälde von Goya, das einen Hund darstellt. Der Hund wirkt verzweifelt. Doch András kommentiert: „Erst wenn wir uns ganz nah heranbeugen, sehen wir, dass er sich in Wahrheit wundert. Dass er es einfach nur nicht versteht. Ich glaube, dieses Bild ist eine der genauesten Menschendarstellungen.“
„Das Ende“von Attila Bartis ist ein monumentaler Liebes-, Epochen- und Künstlerroman, der auf seinen 750 Seiten nie in epischer Behäbigkeit versinkt. Dieses Buch geht einem durch Herz und Hirn wie wenige andere. Leider muss in der fast makellosen Übersetzung von Terézia Mora die Bedeutung der Namen verloren gehen. Doch es leuchtet darin auf, was die Kraft dieses Prosa-Stroms ausmacht: eine Sprache, die sich in den finstersten Geheimnissen der Liebe und des Daseins bewährt und Fragen von Geschichte und Gesellschaft in unvergessliche Bilder und Szenen bannt.