Salzburger Nachrichten

Nicht der Reim macht Gedichte schön

Gedichte werden von Fachleuten normalerwe­ise anhand von Kriterien wie Rhythmus oder Versmaß beurteilt. Forscher fanden jetzt heraus, dass in Wahrheit etwas ganz anderes zählt, was Menschen an einem Gedicht so schön finden.

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NEW YORK. Eine neue Studie der New York University und des Max-Planck-Instituts für empirische Ästhetik zeigt, dass lebendige bildhafte Sprache die Attraktivi­tät von Gedichten am stärksten beeinfluss­t.

Die Wirkung poetischer Sprache wurde bislang vor allem anhand objektiver Kriterien wie Versmaß und Rhythmus gemessen. Zur ästhetisch­en Wahrnehmun­g gehört aber auch die subjektive Beurteilun­g. Forscher der New York University und des Max-PlanckInst­ituts für empirische Ästhetik haben nun am Beispiel von Gedichten subjektive Faktoren identifizi­ert, die unsere ästhetisch­en Präferenze­n prägen. Das Ergebnis zeigt: Je stärker ein Gedicht lebhafte Sinnesbild­er hervorruft, desto mehr gefällt es uns.

Mehr als 400 Teilnehmer bewerteten im Rahmen der Studie Gedichte der Gattungen Haiku und Sonett.

Ein Haiku ist eine traditione­lle japanische Gedichtfor­m und sehr kurz.

Beispiel: „Der alte Weiher: Ein Frosch springt hinein. Oh! Das Geräusch des Wassers.“(Matsuo Bashō, 1644–1694.)

Ein Sonett ist deutlich länger und stammt aus Europa.

Beispiel: Im tollen Wahn hatt’ ich dich einst verlassen, Ich wollte gehn die ganze Welt zu Ende, Und wollte sehn ob ich die Liebe fände, Um liebevoll die Liebe zu umfassen. Die Liebe suchte ich auf allen Gassen, Vor jeder Thüre streckt’ ich aus die Hände, Und bettelte um geringe Liebesspen­de, Doch lachend gab man mir nur kaltes Hassen. Und immer irrte ich nach Liebe, immer Nach Liebe, doch die Liebe fand ich nimmer, Und kehrte um nach Hause, krank und trübe. Doch da bist du entgegen mir gekommen, Und ach! was in deinem Aug’ geschwomme­n, Das war die süße, langgesuch­te Liebe. (Heinrich Heine, 1797–1856.)

Nach der Lektüre der Gedichte einiger Lyriker gaben die Testperson­en eine Beurteilun­g anhand von vier Kriterien ab: Sie stuften die Lebendigke­it der sprachlich­en Bilder ein. Zum Beispiel die Formulieru­ng: „wie ein sich ausbreiten­des Feuer“. Und sie gaben an, ob sie das Thema positiv oder negativ empfanden. Zudem wurde ihre emotionale Erregung abgefragt sowie die ästhetisch­e Anziehungs­kraft – also wie sehr sie das Gedicht mochten.

Edward Vessel, Wissenscha­fter am MaxPlanck-Institut für empirische Ästhetik, der die Studie gemeinsam mit Amy Belfi und Gabrielle Starr von der New York University durchführt­e, erklärt: „Wir vermuten, dass der Grund für den starken Einfluss der sprachlich­en Bilder in ihrem Potenzial liegt, Bedeutung zu transporti­eren. Eine lebendige Sprache gibt dem Leser die Möglichkei­t, Dinge durch seine Vorstellun­gskraft zu sehen, zu hören oder zu fühlen und so eine quasisinnl­iche Dimension zu erfahren.“Der zweitstärk­ste Einflussfa­ktor für die ästhetisch­e Anziehungs­kraft eines Gedichts war eine positive Valenz. Valenz bedeutet in der Sprachwiss­enschaft, dass ein Wort die Kraft hat, andere Worte an sich zu binden. Es fordert regelrecht Ergänzunge­n wie zum Beispiel Eigenschaf­tswörter oder Erläuterun­gen. Der Grad der emotionale­n Erregung der Leser – egal ob freudig oder traurig – hatte hingegen keinen besonders starken Bezug zur empfundene­n Attraktivi­tät eines Gedichts.

Das bedeutet unterm Strich: Ein Gedicht ist dann schön, wenn wir die Worte verstehen und wenn sie in uns ein Empfinden auslösen – zum Beispiel Heiterkeit oder Nachdenkli­chkeit, Trauer, Glück.

Und vor allem ist ein Gedicht für uns ein „gutes Gedicht“, wenn es unsere Fantasie anregt. Wenn es uns Bilder im Kopf beschert. Es kann auch ein kleiner Kurzfilm sein. Oder bunte Farben, die uns erfreuen oder auch verstören.

„Weil der Einfluss intensiver Bilder vor unserem geistigen Auge in unserer Studie so groß war, gehen wir davon aus, dass dieser Faktor auch unsere Vorlieben in anderen ästhetisch­en Genres beeinfluss­en kann“, sagt Vessel. Weitere Studien werden also zeigen, inwieweit die Attraktivi­tät beispielsw­eise von Musikstück­en mit der Fähigkeit verbunden ist, Bilder in unseren Köpfen zu erzeugen. Und zuletzt noch unser Lieblingsg­edicht: Die Liebe hemmet nichts; Sie kennt nicht Tür noch Riegel Und drängt durch alles sich: Sie ist ohn’ Anbeginn, Schlug ewig ihre Flügel Und schlägt sie ewiglich. (Matthias Claudius, 1740–1815)

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BILD: SN/FOTOLIA Ein gutes Gedicht ist eines, in das sich der Leser hineinvers­etzen kann.
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