E-Wirtschaft bedroht die letzten Flüsse
Der Klimawandel dient als Vorwand: Tausende Kleinkraftwerke sollen auf dem Balkan entstehen.
PRISTINA. Wilde Flüsse und tiefe Schluchten sind die letzte positive Assoziation mit dem geplagten Balkan. Aber ein Bauboom droht die Region mit Wasserkraftwerken zu überziehen und das urtümliche Paradies in einen Park mit vielen Ententeichen zu verwandeln. Betreiber sind einmal mehr korrupte Politiker und potente, meist westliche Investoren. Anrainer wehren sich mit unverhoffter Zähigkeit, stehen aber meist auf verlorenem Posten.
Jetzt kommen alarmierende Zahlen. Fast 3000 Wasserkraftwerke sind zwischen Slowenien und Griechenland zurzeit geplant – bei knapp tausend, die schon in Betrieb sind. „Es wird schon kräftig gebaut“, sagt Ulrich Eichelmann von der Organisation Riverwatch, „auch in Nationalparks“.
Von den genau 2802 Projekten sollen mehr als tausend in Naturschutzgebieten realisiert werden. In 21 Fällen wird dort schon gebaut, hat die Ökofirma Fluvius bei der Auswertung von Zeitungsberichten und Satellitenaufnahmen herausgefunden. Naturschützer Eichelmann, der die Flüsse auf dem Balkan seit vielen Jahren im Blick hat, spricht von einem „WasserkraftTsunami“.
Seit Langem der Hotspot des europäischen Naturschutzes ist die Vjosa, ein etwa 270 Kilometer langer Fluss (im Bild). Von der Quelle im griechischen Pindosgebirge mäandert der Strom widerstandslos durch unberührte Landschaften, Schluchten und Canyons im Süden Albaniens, breitet sich in weite Täler aus und füllt sie mit Geröll, wechselt munter seinen Lauf und mündet dann durch ein breites Delta ins Ionische Meer. „Dass es das überhaupt noch gibt, ist ein Wunder“, sagt Eichelmann. Schon vor zehn Jahren arbeitete eine italienische Firma hier an einem riesigen Staudamm, verschwand dann aber wieder von der Bildfläche. Jetzt hat ein türkischer Konkurrent die Lizenz bekommen und baut weiter. Trotz Widerstand: Sämtliche Bürgermeister von Städten und Dörfern entlang des Stroms protestieren. Ende Oktober versammelte sich Albaniens Pop-Elite so gut wie geschlossen zu einem „Fest für die Vjosa“auf dem riesigen Skanderbeg-Platz in Tirana. Sogar der Industrieverband des Landes ist gegen den Staudamm.
Wasserkraft gilt seit Jahrzehnten als die schlummernde Ressource der Balkanstaaten. Albanien, Bosnien, Bulgarien, Mazedonien, Serbien und Montenegro sind von einer Vielzahl reißender Gebirgsbäche durchzogen. Trotzdem müssen die meisten Länder Strom importieren. Hinzu kommt der Druck durch den Klimaschutz: Veraltete Kohlekraftwerke emittieren mehr Kohlendioxid pro Kilowattstunde als jede andere Energiequelle in Europa.
Nicht nur Naturschützer allerdings bezweifeln, dass Wasser wirklich die Lösung für die Energienöte der Region ist. „Das Problem sind vor allem die kleinen Kraftwerke“, betont Eichelmann: 60 Prozent aller Projekte sollen weniger als ein Megawatt produzieren, also „so gut wie gar keinen Strom“. Obwohl sie zur Energieproduktion kaum beitragen, zerstören sie genauso nachhaltig Flusslandschaften, wie große Kraftwerke es tun.
Oder sogar mehr: Für Kleinkraftwerke ist keine Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) erforderlich. Aber auch für sie werden Flüsse vollständig aufgestaut. Fischarten sterben aus, Schotter bleibt in den Bergen hängen mit der Folge, dass die Küsten erodieren. Straßen und Brücken werden gebaut, für Leitungen wird großflächig gerodet. Dass die Kleinkraftwerke trotz fragwürdigen Ertrags überhaupt gebaut werden, hängt mit einer mindestens so fragwürdigen Förderungsstruktur zusammen: Nach dem schlichten Grundsatz „Small is beautiful“verteilt die Europäische Union da die üppigsten Subventionen, wo ein Staudamm am wenigsten Sinn ergibt. Müsste sich ein Kleinkraftwerk am überversorgten europäischen Strommarkt selbst behaupten, könnte es mit rund drei Cent pro Kilowatt nicht wirtschaftlich betrieben werden. Mit Förderung kommt es aber auf mehr als das Doppelte. Überdies sind Bauvorhaben regelmäßig mit Lizenzen verbunden, die von Politikern vergeben werden. Internationale Energieversorger, Banken und Baufirmen laden die Balkan-Potentaten regelmäßig zu großzügig gesponserten „Wasserkraftkonferenzen“.
Als Investoren treten vor allem Österreicher, Italiener, Türken, Chinesen und Norweger auf, darunter auch immer mehr Mittelständler.