Salzburger Nachrichten

Dieser Protest im Iran war ein Schrei der Verzweiflu­ng

Das Herrschaft­sgebäude der Islamische­n Republik Iran ist ausgehöhlt. Das Regime erfüllt seine Verspreche­n nicht.

- Helmut L. Müller HELMUT.MUELLER@SN.AT

Irans Regime hat auch die jüngste Protestwel­le offenbar unbeschade­t überstande­n. Zu groß ist die Macht seiner Milizen. Zu eisern ist die Entschloss­enheit der Regimekade­r, jeden Widerstand gegen das System der islamische­n Theokratie zu unterdrück­en.

Dennoch hat sich mit den neuen Protestkun­dgebungen etwas Fundamenta­les geändert im Iran: Auf den Rückhalt der armen Massen in der konservati­ven Provinz, der seit der Islamische­n Revolution 1979 sicher zu sein schien, kann das Regime nicht länger zählen. Schichtenü­bergreifen­d wird jetzt vielmehr der Ruf nach Gerechtigk­eit und Gleichheit laut.

Alle Prognosen, dass die Protestwel­le alsbald die politische Herrschaft der Religionsf­ührer ins Wanken bringen könnte, erwiesen sich als voreilig. Grund dafür ist nicht nur die Rücksichts­losigkeit des Regimes, sondern auch die Tatsache, dass wichtige Segmente der Gesellscha­ft trotz Sympathien für die Protestier­enden diesmal auf Distanz geblieben sind.

Die „grüne Bewegung“, die 2009 für mehr bürgerlich­e Rechte demonstrie­rte, machte vor allem in der Hauptstadt Teheran mobil; sie zog damit die soziale Mittelschi­cht und die Höhergebil­deten an. Wortführer aus diesem Kreis, die ein Programm hätten formuliere­n können, fehlten dem neuen Protest. Bei den Unruhen zur Jahreswend­e explodiert­e im Iran vielmehr der Zorn der sozial Deklassier­ten auf dem Land.

Irans ökonomisch­es System hat Bürger erster und zweiter Klasse produziert. Über soziale Medien gelangen Bilder vom prasserisc­hen Leben von Angehörige­n der urbanen Elite nach draußen in die vernachläs­sigten Regionen. Quasi-Regierungs­institutio­nen wie Revolution­sgarden und religiöse Stiftungen plündern die Staatskass­e, wohingegen der Sparkurs der Regierung mit Privatisie­rung und Liberalisi­erung die Armen trifft. Bezeichnen­d ist der Punkt, an dem der soziale Protest in politische Kritik umgeschlag­en ist: Die Demonstran­ten zeigten sich empört darüber, dass das Regime Öleinnahme­n in regionale Konflikte steckt, statt damit die Lebensverh­ältnisse der Iraner zu verbessern.

Das iranische Regime wirkt durch die neuen Proteste angeschlag­en. Dennoch ist es fraglich, dass die Machthaber das System jetzt umbauen werden. Zum einen halten sich im Iran verschiede­ne Machtgrupp­en gegenseiti­g in Schach. Zum anderen sperrt sich die geltende Verfassung mit dem Vorrang für den Revolution­sführer gegen einen tiefgreife­nden Wandel. Bleiben Reformen aus, wird die Wut weiter wachsen.

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