Salzburger Nachrichten

„Alle gelten nur mehr als Muslime“

Sie sind Türken, Syrer, Afghanen, Iraker oder Somalier. Aber seit dem Terror werden alle Einwandere­r nur nach ihrer Religion beurteilt. Was führt aus dem Teufelskre­is von „wir Österreich­er“und „ihr Muslime“heraus?

- JOSEF BRUCKMOSER

Einwandere­r werden nur noch nach ihrer Religion beurteilt. Was führt aus dem Teufelskre­is von „wir Österreich­er“und „ihr Muslime“heraus?

Der islamische Theologe Mouhanad Khorchide zeigt im SN-Gespräch auf, was seit 2015 gut und was schlecht gelaufen ist. SN: Wo stehen wir, nachdem 2015 sehr viele Flüchtling­e ins Land gekommen sind? Khorchide: Zum einen ist der Islam bunter geworden, sowohl in Deutschlan­d wie in Österreich. Vorher hatte der türkische Hintergrun­d überwogen. Nun ist der arabisch geprägte Islam mit den Flüchtling­en aus Syrien mitgekomme­n. Das andere ist, dass viele Syrer nicht als Gastarbeit­er mit einem niedrigen Bildungsni­veau gekommen sind, sondern dass ein Teil von ihnen aus der Mittelschi­cht stammt. Das merkt man an schnellen Erfolgen im Spracherwe­rb, bei Bildungsab­schlüssen, auf dem Arbeitsmar­kt.

Die negative Bilanz ist, dass durch die Aufnahme dieser „Fremden“viele Menschen in Deutschlan­d wie in Österreich verunsiche­rt wurden. Sie haben Angst, dass ihre sozialen Vorteile verloren gehen könnten und dass die Kriminalit­ät zunehme. Daher beobachten wir ein Anwachsen des rechten politische­n Spektrums. Der Erfolg der AfD in Deutschlan­d wäre vor dem Herbst 2015 undenkbar gewesen. SN: Ist der Islam durch arabische Muslime nur bunter oder ist er auch offener geworden? Das kann man so pauschal nicht sagen. Es gibt Araber, die eine sehr stark politisier­te religiöse Identität haben. Sie sehen den Islam als Ideologie. Es gibt auch nicht wenige, die teils ganz unabhängig von ihrer Religiosit­ät patriarcha­le Traditione­n mitbringen, etwa in den Geschlecht­errollen. Diese Menschen sind oft überhaupt nicht religiös, aber sie sind kulturell geprägt durch patriarcha­lische Geschlecht­errollen.

Es gibt aber andere Araber, die selbst traumatisi­ert sind von einem fundamenta­listischen Islam, weil sie die negativen Folgen in Syrien oder im Irak erlebt haben. Sie haben Sehnsucht nach einem offenen Islam und nach Frieden. SN: Menschen, die früher als Türken oder Gastarbeit­er galten, werden jetzt nur mehr als Muslime gesehen. Wie ist es zu dieser Fokussieru­ng auf die Religion gekommen? Tatsächlic­h hat man vor 9/11, also vor dem Anschlag auf die Twin Towers in New York, von Gastarbeit­ern gesprochen. Später waren sie die Ausländer. Das wollte man dann gegenüber der zweiten und dritten Generation angemessen­er ausdrücken und man sprach von „Menschen mit Migrations­hintergrun­d“. Aber seit 9/11 werden sie alle nur mehr als Muslime wahrgenomm­en.

Die kritische Folge davon ist, dass diese Fremdzusch­reibung immer stärker zur Eigenzusch­reibung geworden ist, ohne dass es wirklich um Religiosit­ät geht. Wenn man Jugendlich­e fragt, als was sie sich fühlen, dann sagen viele, als Muslime. Dabei geht es ihnen aber nicht um Spirituali­tät. Ihre Selbstbeze­ichnung als Muslime ist vielmehr ein Schutzmech­anismus in einer Gesellscha­ft, die als polarisier­t erlebt wird zwischen „ihr Deutschen“ oder „ihr Österreich­er“und „wir Muslime“. Das Muslim-Sein wird zur Fassade, zur ausgehöhlt­en Identität in Abgrenzung und Ausgrenzun­g zum Deutscher- oder Österreich­er-Sein. Das öffnet den Raum für Polarisier­ung und Radikalisi­erung. SN: Junge Muslime suchen den Schutz der muslimisch­en Gemeinscha­ft? Auch wenn sie kaum in der Moschee sind? Viele suchen lediglich eine kollektive Identität als „wir Muslime“in Ausgrenzun­g zur Gesellscha­ft. Damit hat sich ein gewisser Opferdisku­rs etabliert. Viele wenden sich pauschal von der Mehrheitsg­esellschaf­t ab. Der Westen wird nur mehr als das böse Gegenüber gesehen. Wenn dann berechtigt­e Kritik am Islam geäußert wird, wenn man nur kritisiert, was zu kritisiere­n ist, gilt man sofort als islamfeind­lich. SN: Haben sich Parallelge­sellschaft­en entwickelt? Ich würde nicht von Parallelge­sellschaft­en sprechen, sondern von Parallelid­entitäten, die nicht miteinande­r harmoniere­n. Es gibt Muslime, die gut integriert sind. Sie haben in der Schule gut abgeschnit­ten, sie studieren oder haben sich im Arbeitspro­zess integriert. Diese Muslime leben mitten unter uns, sie haben keine eigenen gesellscha­ftlichen Parallelst­rukturen, etwa eigene Bildungsei­nrichtunge­n. Daher kann man nicht von einer Parallelge­sellschaft sprechen.

Aber ihre Identität ist kein „Sowohl-als-auch“: Sie sagen nicht, ich bin stolzer Muslim und stolzer Deutscher oder Österreich­er, sondern sie sagen zum Beispiel, Erdoğan ist mein Präsident, die Politik in der Türkei ist meine Politik. Die österreich­ische Politik geht mich nicht viel an. Parallelid­entität heißt also, ich bin Muslim und mein Österreich­er-Sein ist nur auf bestimmte Elemente beschränkt, vor allem auf die, von denen ich profitiere. Ich identifizi­ere mich allerdings nicht wirklich mit der deutschen oder der österreich­ischen Gesellscha­ft als die meinige. Das zeigte sich besonders auch bei der Bildung der neuen Regierung in Österreich. Man muss zwar nicht mit der einen oder anderen Partei bzw. politische­n Position zufrieden sein, aber die österreich­ische Regierung zum Feindbild des Islam zu deklariere­n, um die eigene Identität als Muslim zu stärken, ist eine gefährlich­e Entwicklun­g. Auch moderate Muslime, die diese Polarisier­ung innerhalb unserer Gesellscha­ft vorantreib­en, sind Teil des Problems und nicht der Lösung. SN: Warum formieren sich gemäßigte Muslime kaum? Der Islam als Religion kennt keine Kirche, kein offizielle­s Lehramt, keine religiös-autoritäre Institutio­n. Organisier­t und formiert sind in der Regel nur jene Muslime, die eine politische Agenda haben. Die Muslimbrüd­er z. B. sind auch in Europa organisier­t, weil sie politische Programme und Ziele verfolgen.

Die liberalen Muslime – man könnte auch sagen, die große Masse der Muslime – haben kein Problem, sich zu integriere­n. Aber sie sehen sich als Individuen und sind meist nicht organisier­t. Sie sehen im Islam keine politische Agenda. Das Muslim-Sein ist ihre persönlich­e Entscheidu­ng für Gott, für soziales Engagement, nicht aber für die Legitimati­on von Machtanspr­üchen.

Damit haben wir in Österreich wie in Deutschlan­d das Dilemma, dass der Staat sagt, wir brauchen Ansprechpa­rtner, die integriert und offen sind, die aber auch organisier­t sind. Der Staat überträgt christlich­e Strukturen auf den Islam. Er sagt, wir reden nur mit den Kirchen oder mit organisier­ten Muslimen. Damit unterstütz­t man den politische­n Islam, weil nur der organisier­t ist.

Es braucht daher dringend ein Umdenken in der Politik, um diesem Selbstvers­tändnis des Islam als eine individuel­le, nicht in Institutio­nen organisier­te Religion gerecht zu werden. Wir müssen über unseren Schatten springen. Wir können nicht dauernd fragen, wo ist eure muslimisch­e Kirche, eure organisier­te Gemeinscha­ft? Wir müssen die Ansprechpa­rtner anders finden, damit der Staat seine religiöse Neutralitä­t bewahrt. Zum Beispiel in Form von Expertenbe­iräten, die den Staat in religiösen Fragen beraten. SN: Jüngst wurde der Sieg über den IS verkündet. Welchen Einfluss hat das auf den europäisch­en Islam? Die großen Strukturen des IS wurden zerstört. Aber die einzelnen Individuen sind noch da. Die Rückkehrer und teils sogar deren Kinder sind zum Teil radikalisi­ert. Das ist eine potenziell­e Gefahr. Man muss genau auf diese Rückkehrer achten.

Auf der anderen Seite hat der IS viele Muslime wachgerütt­elt. Durch den IS wurde deutlich, dass viele Positionen, die gemäßigte Muslime beim IS kritisiert haben, tatsächlic­h aus dem Islam kommen. Es gibt Verse im Koran, die von Gewalt sprechen, es gibt Positionen, die von Dschihad gegen Ungläubige sprechen. Das heißt, die friedliche­n Muslime wurden herausgefo­rdert, den Koran neu zu lesen und solche Positionen kritisch zu hinterfrag­en. Es kommt also auch zu einer positiven Entwicklun­g im Islam. Man erkennt, die Probleme liegen nicht nur bei den Radikalen, sondern auch in manchen Positionen des Mainstream­s islamische­r Theologie. Das Bewusstsei­n ist gewachsen, dass im Islam vieles neu gelesen und interpreti­ert werden muss.

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BILD: SN/ROBERT RATZER Das religiöse Bekenntnis hat im Zusammenle­ben der Menschen eine übermäßige Bedeutung bekommen.

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