„Alle gelten nur mehr als Muslime“
Sie sind Türken, Syrer, Afghanen, Iraker oder Somalier. Aber seit dem Terror werden alle Einwanderer nur nach ihrer Religion beurteilt. Was führt aus dem Teufelskreis von „wir Österreicher“und „ihr Muslime“heraus?
Einwanderer werden nur noch nach ihrer Religion beurteilt. Was führt aus dem Teufelskreis von „wir Österreicher“und „ihr Muslime“heraus?
Der islamische Theologe Mouhanad Khorchide zeigt im SN-Gespräch auf, was seit 2015 gut und was schlecht gelaufen ist. SN: Wo stehen wir, nachdem 2015 sehr viele Flüchtlinge ins Land gekommen sind? Khorchide: Zum einen ist der Islam bunter geworden, sowohl in Deutschland wie in Österreich. Vorher hatte der türkische Hintergrund überwogen. Nun ist der arabisch geprägte Islam mit den Flüchtlingen aus Syrien mitgekommen. Das andere ist, dass viele Syrer nicht als Gastarbeiter mit einem niedrigen Bildungsniveau gekommen sind, sondern dass ein Teil von ihnen aus der Mittelschicht stammt. Das merkt man an schnellen Erfolgen im Spracherwerb, bei Bildungsabschlüssen, auf dem Arbeitsmarkt.
Die negative Bilanz ist, dass durch die Aufnahme dieser „Fremden“viele Menschen in Deutschland wie in Österreich verunsichert wurden. Sie haben Angst, dass ihre sozialen Vorteile verloren gehen könnten und dass die Kriminalität zunehme. Daher beobachten wir ein Anwachsen des rechten politischen Spektrums. Der Erfolg der AfD in Deutschland wäre vor dem Herbst 2015 undenkbar gewesen. SN: Ist der Islam durch arabische Muslime nur bunter oder ist er auch offener geworden? Das kann man so pauschal nicht sagen. Es gibt Araber, die eine sehr stark politisierte religiöse Identität haben. Sie sehen den Islam als Ideologie. Es gibt auch nicht wenige, die teils ganz unabhängig von ihrer Religiosität patriarchale Traditionen mitbringen, etwa in den Geschlechterrollen. Diese Menschen sind oft überhaupt nicht religiös, aber sie sind kulturell geprägt durch patriarchalische Geschlechterrollen.
Es gibt aber andere Araber, die selbst traumatisiert sind von einem fundamentalistischen Islam, weil sie die negativen Folgen in Syrien oder im Irak erlebt haben. Sie haben Sehnsucht nach einem offenen Islam und nach Frieden. SN: Menschen, die früher als Türken oder Gastarbeiter galten, werden jetzt nur mehr als Muslime gesehen. Wie ist es zu dieser Fokussierung auf die Religion gekommen? Tatsächlich hat man vor 9/11, also vor dem Anschlag auf die Twin Towers in New York, von Gastarbeitern gesprochen. Später waren sie die Ausländer. Das wollte man dann gegenüber der zweiten und dritten Generation angemessener ausdrücken und man sprach von „Menschen mit Migrationshintergrund“. Aber seit 9/11 werden sie alle nur mehr als Muslime wahrgenommen.
Die kritische Folge davon ist, dass diese Fremdzuschreibung immer stärker zur Eigenzuschreibung geworden ist, ohne dass es wirklich um Religiosität geht. Wenn man Jugendliche fragt, als was sie sich fühlen, dann sagen viele, als Muslime. Dabei geht es ihnen aber nicht um Spiritualität. Ihre Selbstbezeichnung als Muslime ist vielmehr ein Schutzmechanismus in einer Gesellschaft, die als polarisiert erlebt wird zwischen „ihr Deutschen“ oder „ihr Österreicher“und „wir Muslime“. Das Muslim-Sein wird zur Fassade, zur ausgehöhlten Identität in Abgrenzung und Ausgrenzung zum Deutscher- oder Österreicher-Sein. Das öffnet den Raum für Polarisierung und Radikalisierung. SN: Junge Muslime suchen den Schutz der muslimischen Gemeinschaft? Auch wenn sie kaum in der Moschee sind? Viele suchen lediglich eine kollektive Identität als „wir Muslime“in Ausgrenzung zur Gesellschaft. Damit hat sich ein gewisser Opferdiskurs etabliert. Viele wenden sich pauschal von der Mehrheitsgesellschaft ab. Der Westen wird nur mehr als das böse Gegenüber gesehen. Wenn dann berechtigte Kritik am Islam geäußert wird, wenn man nur kritisiert, was zu kritisieren ist, gilt man sofort als islamfeindlich. SN: Haben sich Parallelgesellschaften entwickelt? Ich würde nicht von Parallelgesellschaften sprechen, sondern von Parallelidentitäten, die nicht miteinander harmonieren. Es gibt Muslime, die gut integriert sind. Sie haben in der Schule gut abgeschnitten, sie studieren oder haben sich im Arbeitsprozess integriert. Diese Muslime leben mitten unter uns, sie haben keine eigenen gesellschaftlichen Parallelstrukturen, etwa eigene Bildungseinrichtungen. Daher kann man nicht von einer Parallelgesellschaft sprechen.
Aber ihre Identität ist kein „Sowohl-als-auch“: Sie sagen nicht, ich bin stolzer Muslim und stolzer Deutscher oder Österreicher, sondern sie sagen zum Beispiel, Erdoğan ist mein Präsident, die Politik in der Türkei ist meine Politik. Die österreichische Politik geht mich nicht viel an. Parallelidentität heißt also, ich bin Muslim und mein Österreicher-Sein ist nur auf bestimmte Elemente beschränkt, vor allem auf die, von denen ich profitiere. Ich identifiziere mich allerdings nicht wirklich mit der deutschen oder der österreichischen Gesellschaft als die meinige. Das zeigte sich besonders auch bei der Bildung der neuen Regierung in Österreich. Man muss zwar nicht mit der einen oder anderen Partei bzw. politischen Position zufrieden sein, aber die österreichische Regierung zum Feindbild des Islam zu deklarieren, um die eigene Identität als Muslim zu stärken, ist eine gefährliche Entwicklung. Auch moderate Muslime, die diese Polarisierung innerhalb unserer Gesellschaft vorantreiben, sind Teil des Problems und nicht der Lösung. SN: Warum formieren sich gemäßigte Muslime kaum? Der Islam als Religion kennt keine Kirche, kein offizielles Lehramt, keine religiös-autoritäre Institution. Organisiert und formiert sind in der Regel nur jene Muslime, die eine politische Agenda haben. Die Muslimbrüder z. B. sind auch in Europa organisiert, weil sie politische Programme und Ziele verfolgen.
Die liberalen Muslime – man könnte auch sagen, die große Masse der Muslime – haben kein Problem, sich zu integrieren. Aber sie sehen sich als Individuen und sind meist nicht organisiert. Sie sehen im Islam keine politische Agenda. Das Muslim-Sein ist ihre persönliche Entscheidung für Gott, für soziales Engagement, nicht aber für die Legitimation von Machtansprüchen.
Damit haben wir in Österreich wie in Deutschland das Dilemma, dass der Staat sagt, wir brauchen Ansprechpartner, die integriert und offen sind, die aber auch organisiert sind. Der Staat überträgt christliche Strukturen auf den Islam. Er sagt, wir reden nur mit den Kirchen oder mit organisierten Muslimen. Damit unterstützt man den politischen Islam, weil nur der organisiert ist.
Es braucht daher dringend ein Umdenken in der Politik, um diesem Selbstverständnis des Islam als eine individuelle, nicht in Institutionen organisierte Religion gerecht zu werden. Wir müssen über unseren Schatten springen. Wir können nicht dauernd fragen, wo ist eure muslimische Kirche, eure organisierte Gemeinschaft? Wir müssen die Ansprechpartner anders finden, damit der Staat seine religiöse Neutralität bewahrt. Zum Beispiel in Form von Expertenbeiräten, die den Staat in religiösen Fragen beraten. SN: Jüngst wurde der Sieg über den IS verkündet. Welchen Einfluss hat das auf den europäischen Islam? Die großen Strukturen des IS wurden zerstört. Aber die einzelnen Individuen sind noch da. Die Rückkehrer und teils sogar deren Kinder sind zum Teil radikalisiert. Das ist eine potenzielle Gefahr. Man muss genau auf diese Rückkehrer achten.
Auf der anderen Seite hat der IS viele Muslime wachgerüttelt. Durch den IS wurde deutlich, dass viele Positionen, die gemäßigte Muslime beim IS kritisiert haben, tatsächlich aus dem Islam kommen. Es gibt Verse im Koran, die von Gewalt sprechen, es gibt Positionen, die von Dschihad gegen Ungläubige sprechen. Das heißt, die friedlichen Muslime wurden herausgefordert, den Koran neu zu lesen und solche Positionen kritisch zu hinterfragen. Es kommt also auch zu einer positiven Entwicklung im Islam. Man erkennt, die Probleme liegen nicht nur bei den Radikalen, sondern auch in manchen Positionen des Mainstreams islamischer Theologie. Das Bewusstsein ist gewachsen, dass im Islam vieles neu gelesen und interpretiert werden muss.