Es gibt keine höhere Sache als die Liebe
ANTON THUSWALDNER
Im Jahr 1944, der Krieg ist längst verloren, bäumen sich die Hardliner des „Dritten Reichs“noch einmal zum erbitterten Widerstand gegen das Unvermeidliche auf. Ein Wehrmachtssoldat, im Russlandfeldzug verletzt, zieht sich zur Regeneration nach Mondsee zurück, wo sich auf überschaubarem Raum alle Widersprüche der Gesellschaft ablesen lassen. Für den Schriftsteller Arno Geiger, der seine Literatur in den harten Fakten der Zeitgeschichte verankert, bietet dies die Chance, an einem Personal, an dessen Gedanken- und Gefühlswelt man teilhaben darf, nachzuweisen, welch katastrophale und dauerhafte Wirkung eine mörderische Ideologie nach sich zieht.
Veit Kolbe, Hauptfigur in Arno Geigers neuem Roman, hat an der Front die Schrecken von Vernichtung und willkürlichem Morden mitbekommen. Geläutert tritt er seinen Genesungsurlaub an, zum Regime ist er auf Distanz gegangen. Mit Widerwillen reagiert er auf all jene, die bislang unbehelligt geblieben sind und mit Durchhalteparolen Stimmung machen. Zu Margot, seiner Mondseer Zimmernachbarin, entwickelt sich ein Vertrauensverhältnis, das zu Liebe wird. Gemeinsam stehen sie durch, was jeder für sich schon als Kasperliade der Grausamkeit empfunden hat. Dass beide mit dem Regime schon abgeschlossen haben, bildet einen Kitt. Mit Erstaunen nehmen sie wahr, wie rings um sie herum gegen jede Vernunft und den deutlichen Augenschein die Fantasie vom Sieg die Runde macht.
Das Gefühlsklima lässt sich an Fanatikern und allen von der Gedankenpolizei Zugerichteten ebenso gut wie an den widerborstigen Quertreibern beobachten: Veits Vermieterin, eine verbiesterte Furie, ihr Mann, der ewige Spießer und rabiate Profiteur der Politik, ihr Bruder, „der Brasilianer“, wie er aufgrund seines langen Aufenthalts in Südamerika genannt wird, ein offener Regimegegner, Veits Onkel, der typische Mitläufer im Polizeirevier, eine verhärmte Lehrerin, zum Drillen einer Mädchengruppe verdammt. Sie alle stehen für Haltungen, die kurz vor dem Untergang des „Dritten Reichs“die Stimmung ausmachen. Das junge Paar und der Brasilianer wirken als ungute Fremdkörper in einer Gesellschaft der freiwilligen Selbstbeschränkung.
Der Roman lässt sich als Exkursion ins unheimliche Reich des Massemenschen verstehen. So geht es zu unter Menschen, wenn sie sich als auserwählt empfinden, weil sie glauben, im Besitz der Wahrheit zu sein. Das stiftet Einheit, definiert jede Abweichung als Verirrung, die ausgemerzt werden muss, und bedarf keiner Überprüfung oder Rechtfertigung. Arno Geiger weist solche Charaktere als flache Figuren aus, wie sehr er sie verachtet lässt sich bis in die Beschreibung der Physiognomie nachvollziehen. Wer aber aus der Reihe tanzt, bekommt seine ganze Aufmerksamkeit und darf mit einer Behandlung als vielschichtiger, mehrdimensionaler Charakter rechnen.
Das Buch, zu großen Teilen aus Aufzeichnungen Veits bestehend, ist mit nüchternem Verstand verfasst, ein notwendiges Gegengewicht zur Aufgeregtheit der Zeit. Dabei bestünde bei den sich überstürzenden Ereignissen, die auch der Spannungsliteratur gut anstünden, Grund genug, sich in eine aufgewühlte Sprache zu verkriechen.
Bei Arno Geiger spielen sich die großen Dramen im Leben der Menschen ab. Die Zeit mag noch so aufgewühlt, zerstörerisch und zynisch sein, dem Autor geht es darum, zu zeigen, wie sich der Einzelne durchschlägt und den Widrigkeiten der historischen Umstände einen Trotz entgegenhält, dem Vereinnahmung durch das Kollektiv zuwider ist. Veit allein stünde auf verlorenem Posten. Fände er nicht Rückhalt beim Brasilianer und bei Margot, sein Leben wäre nicht viel wert. Deshalb kommt der Liebesgeschichte derart breiter Raum zu, weil Veit aus der Lethargie herausgeholt wird und für sich einen Sinn ausmacht, der sich vom Hassprogramm der Nazis und der Übermacht der Ideologie befreit. Für die Jungen, inzwischen das letzte Aufgebot, besteht kein Zweifel, dass sie einer höheren Sache dienen und dafür bereitwillig ihr Leben hergeben. Eine höhere Sache als die Liebe aber gibt es für Veit nicht, deshalb ist er verloren für die Sache der Nazis.
Arno Geiger erzählt vom Bestürzenden in einer Situation, da dieses den Normalfall bedeutet. Wir befinden uns inmitten einer Gesellschaft, die viel Energie darauf verwendet, die Jugend beizeiten zu verrohen. Parallel zur Liebesgeschichte von Veit und Margot findet eine unter Jugendlichen statt – eine hoffnungslose Angelegenheit, zumal die beiden unter Bewachung stehen. Die Chance, sich die unerlaubte Freiheit zu nehmen, die in der Liebe steckt, holen sie sich allenfalls in Briefen. Mehr zu kriegen gelingt ihnen nicht, das geht nicht gut aus. Vor allem das Mädchen erweist sich als unbotmäßig, brennt verbittert und erbost durch und stirbt in der Drachenwand. Ihr Liebhaber vermittelt danach den kläglichen Eindruck eines Untoten.
Die Geschichte am Mondsee ist nicht erfunden, zehn Jahre Recherchearbeit stecken in dem neuen Roman. Arno Geiger ist zu Hochform aufgelaufen!