Salzburger Nachrichten

1920 Als Österreich der Staat wurde, den wir heute kennen

Zwei Jahre nach Ende der Monarchie erhielt Österreich seine (fast) endgültige republikan­ische Form. Und das mitten in einem heftigen Wahlkampf

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WIEN.

Es war ein düsterer Herbst, dieser Herbst 1920. Die Folgen des Weltkriegs mit seinen Millionen Toten waren längst nicht überwunden. Die junge kleine Republik sah einer ungewissen Zukunft entgegen. Die Wirtschaft lag am Boden. Zu allem Überfluss war im Sommer dieses Jahres (ähnlich wie 2017) die Große Koalition aus Sozialdemo­kraten und Christlich­sozialen zerbrochen. Die politische Teilung des Landes, deren Folgen die junge Republik bald irreparabe­l schädigen sollten, hatte in diesen Wochen ihren Anfang genommen. Es herrschte Wahlkampf im Herbst 1920. Doch mitten in diesem Wahlkampf gelang den zerstritte­nen Parteien eine politische und legistisch­e Meisterlei­stung. Sie einigten sich auf eine Verfassung für die Republik, die zwei Jahre zuvor auf den Trümmern der Habsburger-Monarchie entstanden war.

Und zwar auf eine Verfassung, die im Wesentlich­en noch heute gilt und die gerade in diesen ersten Tagen der türkis-blauen Koalition die Politik bestimmt. Wenn Kanzler und Vizekanzle­r nach den Neos schielen, deren zehn Mandate sie für Verfassung­sgesetze brauchen, dann ist das der Verfassung von 1920 zu verdanken. Denn diese schreibt eine Zweidritte­lmehrheit für Verfassung­sgesetze vor. Wenn neue Mitglieder und ein neuer Präsident für den Verfassung­sgerichtsh­of gesucht werden, ist das eine Folge der Verfassung von 1920. Denn in dieser sind – eine Pioniertat – Struktur und Funktion dieses Staatsgeri­chtshofs festgeschr­ieben.

Der geistige Vater der Verfassung, der bedeutende Rechtsgele­hrte Hans Kelsen, sollte, entnervt von reaktionär­en und antisemiti­schen Anwürfen, Österreich bereits 1930 verlassen. Ein großer Teil Europas hatte sich in den Jahren nach 1920 autoritäre­n Führerfigu­ren verschrieb­en. Auch am österreich­ischen Nationalra­t ging diese autoritäre Entwicklun­g nicht spurlos vorüber. 1929 kam es auf Drängen der Christlich­sozialen zu einer bedeutende­n Änderung der Bundesverf­assung, deren Kernstück die Volkswahl des Bundespräs­identen war. Zuvor war das Staatsober­haupt vom Parlament gewählt worden. Auch erhielt der Bundespräs­ident durch die Verfassung­snovelle weit mehr Befugnisse, als es in der Kelsen-Verfassung vorgesehen war. Somit hatte Österreich knapp ein Dutzend Jahre nach Ende der Monarchie wieder ein starkes Staatsober­haupt – bis heute. Freilich nur auf dem Papier. Denn die erste Volkswahl des Bundespräs­identen fand erst 1951 statt. Und in die Rolle des Austro-Diktators schlüpfte 1933 nicht der Bundespräs­ident, sondern Bundeskanz­ler Engelbert Dollfuß.

Die Kelsen-Verfassung ist ein beeindruck­endes Stück Rechts-Prosa – klar geschriebe­n und auch für Laien verständli­ch. Kritiker bemängeln den rechtsposi­tivistisch­en Ansatz des Gesetzeswe­rks. Zu Deutsch: Die Verfassung beruft sich zum Schutz ihrer Rechts- güter nicht auf ein höheres Wesen oder eine höhere Ordnung, sondern ausschließ­lich auf den Gesetzgebe­r und das Volk. Das bedeutet, dass mit den Instrument­arien der KelsenVerf­assung mühelos die Monarchie oder die Todesstraf­e eingeführt werden könnten (freilich stehen internatio­nale Verpflicht­ungen Österreich­s dem entgegen).

Im Lauf der Zeit wurde die Verfassung verwässert durch etliche amtierende Regierunge­n, die alles, was ihnen wichtig schien, per Zweidritte­lmehrheit zur Verfassung­smaterie erklärten und das Werk Kelsens somit heillos überfracht­eten. Und dennoch: Es gibt Österreich heute noch seine Form.

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BILD: SN/PACHOT / ULLSTEIN BILD / PICTUREDES­K.COM Wien 1920: Als das Parlament noch jung war.

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