Hilfe, ich habe mich selbst gefressen: Kannibalen im eigenen Haus
Was früher verpönt war, ist heute ein Muss: Über den Mut, die eigenen Produkte zu verdrängen.
Von Menschenfressern hört man in der zivilisierten Welt selten, von Kannibalen neuerdings wieder häufiger: „Ich werde mir doch nicht mein eigenes Geschäft kannibalisieren.“Das ist einer der am häufigsten zu hörenden Sätze, wenn Neues an Manager und Unternehmer herangetragen wird. Man versteht schnell, dass dabei nicht der Verzehr von Artgenossen angedacht wird. Vielmehr fürchten die Chefs, dass eine Gruppe an (menschlichen) Geschäftsaktivitäten die andere hinfällig machen könnte.
Der sogenannte Kannibalisierungseffekt zwischen verschiedenen Produkten wird in vielen Unternehmen gefürchtet wie die Pest. Der hartnäckige Glaube an ihn ist schuld daran, dass sich etablierte Versandhändler lange gewehrt haben, das von ihnen perfektionierte Kataloggeschäft zeitgemäßen Online-Stores zu opfern. Noch heute wehren sich die Autohersteller mit Händen und Füßen dagegen, Autos radikal neu zu denken, so wie ein fahrbares, via E-Motor angetriebenes Riesen-Smartphone. Der Grund ist, dass all ihre teuren und ausgeklügelten Produktionssysteme darauf ausgerichtet sind, das letzte Tausendstel zusätzlicher Effizienz und Sauberkeit aus Diesel- und Benzinautos herauszupressen. Und überall dort, wo der Vertrieb eine große Rolle spielt, von Uhren bis zu Versicherungen, hat man Angst davor, dass intelligente Digital-Konfiguratoren, die es Kunden ermöglichen, das Wunschprodukt im Internet zusammenzustellen, das reale, über Jahre mühsam aufgebaute Vertriebsnetzwerk hinfällig machen könnten.
Dabei weiß man aus der jüngeren Vergangenheit, wie solche Geschichten ausgehen: Da kommt einer der großen Datenkraken aus Silicon Valley oder ein flottes Start-up und tut genau das, was etablierte Konzerne im Markt zuvor naserümpfend abgelehnt hatten: das Geschäft kannibalisieren, aber eben von außen kommend. Der Eintritt Branchenfremder hat schon so manchen Versandhändler das Leben gekostet, wird noch so manchen Autobauer und Finanzdienstleister in die Knie zwingen.
Die Sichtweise, dass Unternehmen ihr eigenes Geschäft nicht konkurrenzieren dürften, ist angesichts des intensiven Wettbewerbs und der raschen digitalen Entwicklung überholt: Heute muss man das Bessere, Kundenfreundlichere ins Haus holen, selbst wenn man damit Umsätze mit bestehenden Produkten ruiniert. Alt muss neben Neu existieren, auch wenn das auf den ersten Blick widersprüchlich erscheint. Wer sich nicht traut, sich selbst zu kannibalisieren, lernt nichts über die Zukunft und wird am Ende von anderen gefressen. Und das ist das traurigste Ende überhaupt.
Gertraud Leimüller leitet ein Unternehmen für Innovationsberatung in Wien und ist stv. Vorsitzende der creativ wirtschaft austria. SN.AT/GEWAGTGEWONNEN