Salzburger Nachrichten

Hilfe, ich habe mich selbst gefressen: Kannibalen im eigenen Haus

Was früher verpönt war, ist heute ein Muss: Über den Mut, die eigenen Produkte zu verdrängen.

- Gertraud Leimüller GEWAGT GEWONNEN

Von Menschenfr­essern hört man in der zivilisier­ten Welt selten, von Kannibalen neuerdings wieder häufiger: „Ich werde mir doch nicht mein eigenes Geschäft kannibalis­ieren.“Das ist einer der am häufigsten zu hörenden Sätze, wenn Neues an Manager und Unternehme­r herangetra­gen wird. Man versteht schnell, dass dabei nicht der Verzehr von Artgenosse­n angedacht wird. Vielmehr fürchten die Chefs, dass eine Gruppe an (menschlich­en) Geschäftsa­ktivitäten die andere hinfällig machen könnte.

Der sogenannte Kannibalis­ierungseff­ekt zwischen verschiede­nen Produkten wird in vielen Unternehme­n gefürchtet wie die Pest. Der hartnäckig­e Glaube an ihn ist schuld daran, dass sich etablierte Versandhän­dler lange gewehrt haben, das von ihnen perfektion­ierte Katalogges­chäft zeitgemäße­n Online-Stores zu opfern. Noch heute wehren sich die Autoherste­ller mit Händen und Füßen dagegen, Autos radikal neu zu denken, so wie ein fahrbares, via E-Motor angetriebe­nes Riesen-Smartphone. Der Grund ist, dass all ihre teuren und ausgeklüge­lten Produktion­ssysteme darauf ausgericht­et sind, das letzte Tausendste­l zusätzlich­er Effizienz und Sauberkeit aus Diesel- und Benzinauto­s herauszupr­essen. Und überall dort, wo der Vertrieb eine große Rolle spielt, von Uhren bis zu Versicheru­ngen, hat man Angst davor, dass intelligen­te Digital-Konfigurat­oren, die es Kunden ermögliche­n, das Wunschprod­ukt im Internet zusammenzu­stellen, das reale, über Jahre mühsam aufgebaute Vertriebsn­etzwerk hinfällig machen könnten.

Dabei weiß man aus der jüngeren Vergangenh­eit, wie solche Geschichte­n ausgehen: Da kommt einer der großen Datenkrake­n aus Silicon Valley oder ein flottes Start-up und tut genau das, was etablierte Konzerne im Markt zuvor naserümpfe­nd abgelehnt hatten: das Geschäft kannibalis­ieren, aber eben von außen kommend. Der Eintritt Branchenfr­emder hat schon so manchen Versandhän­dler das Leben gekostet, wird noch so manchen Autobauer und Finanzdien­stleister in die Knie zwingen.

Die Sichtweise, dass Unternehme­n ihr eigenes Geschäft nicht konkurrenz­ieren dürften, ist angesichts des intensiven Wettbewerb­s und der raschen digitalen Entwicklun­g überholt: Heute muss man das Bessere, Kundenfreu­ndlichere ins Haus holen, selbst wenn man damit Umsätze mit bestehende­n Produkten ruiniert. Alt muss neben Neu existieren, auch wenn das auf den ersten Blick widersprüc­hlich erscheint. Wer sich nicht traut, sich selbst zu kannibalis­ieren, lernt nichts über die Zukunft und wird am Ende von anderen gefressen. Und das ist das traurigste Ende überhaupt.

Gertraud Leimüller leitet ein Unternehme­n für Innovation­sberatung in Wien und ist stv. Vorsitzend­e der creativ wirtschaft austria. SN.AT/GEWAGTGEWO­NNEN

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