Afghanistan: Immer wieder Krieg
Nach dem Sturz der Taliban kehrte Abdul Hamid wieder in seine Heimat zurück. Sein ganzes langes Leben ist geprägt von Hoffnungen. Erfüllt haben sie sich nicht.
Der rostige Stacheldraht auf der hohen Mauer wirkt alt und brüchig. Das schwere Eisentor unterscheidet sich kaum von den Einfahrten der Nachbarhäuser im Zentrum von Afghanistans Hauptstadt Kabul. Die ruhige Straße mit einigen Kramläden voller Obst wirkt geradezu idyllisch, liegt aber nur einen Steinwurf von der schwer bewachten „Grünen Zone“entfernt, wo die Regierungsgebäude und ausländischen Botschaften sind. Selbst die überall üblichen Wächter mit Kalaschnikow-Gewehren, die älter scheinen als ihre Besitzer, fehlen. Aus einer Bäckerei, die wie alle anderen bei Wind, Wetter und sogar bei Schießereien rund um die Uhr geöffnet sind, weht der Duft von frisch gebackenem Fladenbrot.
Die Schlösser und dicken Ketten zeigen freilich, dass die Bewohner des Hauses trotz oberflächlicher urbaner Idylle ständig in der Angst vor Dieben und Terrorüberfällen leben. „Ich weiß nie, ob mein Sohn von seinen Besorgungen heil heimkehrt“, sagt Abdul Hamid, „jeder Einkauf kann der letzte sein.“Der 83-Jährige sitzt auf einem Sofa im Wohnzimmer. Ohne Umschweife kommt er auf das Thema zu sprechen, das ihm besonders am Herzen liegt: „Afghanistan hatte seine besten Zeiten, als es von König Zahir Shah regiert wurde. Seitdem wurde alles schlimmer.“
Die schönen und im Rückblick sicher romantisierten Erinnerungen liegen rund ein halbes Jahrhundert zurück. Abdul Hamid ist einer der letzten Zeitzeugen des Friedens am Hindukusch. Ähnlich alte Europäer erlebten eine Periode des Friedens zwischen einst verfeindeten Nationen. Ihre afghanischen Altersgenossen dagegen blicken voll Bitterkeit auf ein Leben zurück, in dem immer alle Hoffnungen zersprungen und manche Dinge doch geblieben sind, wie sie waren.
„Ich erinnere mich, dass der König Ende der 1950er-Jahre seinen Premier warnte: Sei vorsichtig, wenn du den Einfluss der Mullahs einzuschränken versuchst“, erzählt Hamid. Immer noch stemmen sich Afghanistans Geistliche mit aller Kraft gegen Veränderung. Die Großmacht Sowjetunion, die mit ihrer Invasion in Afghanistan 1979 den ersten Spatenstich ihres eigenen Begräbnisses schaufelte, scheiterte am Widerstand der Mullahs. Die USA, die gemeinsam mit NATOPartnern rund sechs Milliarden Dollar in das Ende der Sowjetunion investierten und Tausende stramm antikommunistische, tiefreligiöse Gotteskämpfer großzogen, riefen Geister, die heute weltweit Angst und Schrecken im Gewand fanatischer islamischer Kämpfer verbreiten.
Bei der nostalgischen Erinnerung an Afghanistans goldene Zeiten in den 1960ern muss Hamid schmunzeln. Damals galt das Land als Topziel des Hippie-Tourismus. Busladungen voller Rucksacktouristen strömten nach Kabul. Sie waren angezogen von der gewaltigen Naturschönheit, von billigem Haschisch oder härteren Drogen. Hamid Karzai, Präsident von 2001 bis 2015, soll sich mit schulterlangem Haar so lange in der Gesellschaft ausländischer Blumenkinder herumgetrieben haben, bis ihn der Vater heim nach Kandahar beorderte und die Haarpracht scheren ließ.
Doch hinter der Fassade der Leichtlebigkeit entfaltete sich schon das Schlachtfeld des Kalten Kriegs. 1973 stürzte der Ex-Premier Daoud seinen Cousin und Schwager Zahir Shah und legte sich mit seinem Nachbarn Pakistan an. Islamabad antwortete mit dem Einsatz bewaffneter Banden. Damals tauchten erstmals Namen wie Gulbuddin Hekmatyar oder Jalaluddin Haqqani auf. Die Kriegsfürsten kämpften im Auftrag Pakistans und sie oder ihre Nachfahren sorgen heute noch für Blutvergießen.
Daoud suchte die Nähe zum damals westlichen Iran, zu Indien und Ägypten. Ab 1977 verlegte er seine Energie auf die Eindämmung der afghanischen Kommunisten und ihrer Ziehväter in Moskau. Das Parlament ersetzte er durch eine Loya Jirga, einen Stammesrat. Immer wieder verwendeten später die westlichen Staaten das Argument, Demokratie könne angesichts der Entwicklung in Afghanistan nicht funktionieren. Abdul Hamid fährt bei diesem Entwurf förmlich aus der Haut. „Wofür halten uns dieses Leute eigentlich, die Jahrzehnte auf unserem Rücken ihre Machtinteressen ausgetragen haben?“, fragt er voll Zorn.
Daoud wurde 1978 von moskauhörigen Kommunisten gestürzt, die Familie und enge Mitarbeiter massakriert. „Daouds Erbe war Krieg“, sagt Hamid, der einst ein Unterstützer war.
Hamid trägt einen dunkelblauen Blazer, eine weinrote Strickweste und eine sorgfältig geknotete Krawatte. Auf einem niedrigen Tisch stehen Teller mit Rosinen, Nüssen und etwas Gebäck. Ein Hausdiener bringt grünen Tee. Der 83-jährige frühere Journalist beweist Gastfreundschaft, wie sie in Afghanistan zum guten Ton gehört. Doch der Intellektuelle kennt die Geschichte seines Landes und weiß, wie trügerisch hier Gastfreundschaft sein kann. Der frühere UNO-Sonderbotschafter Hans Heinrich Holl, der 1996 und 1997 tätig war, klagte noch lange über diese Neigung. „Man glaubt, nach stundenlangen Verhandlungen und vielen Litern Tee eine Einigung erzielt zu haben, und sobald alle gehen, fällt alles zusammen“, erzählte er. Holl sollte Frieden schaffen, als die 1994 gegründeten Taliban auf dem Vormarsch waren und Ahmed Shah Masood, den Nationalhelden des heutigen Afghanistan, zurückgedrängt hatten. Viele Afghanen standen dem Vormarsch der Taliban anfangs positiv gegenüber.
Denn dem Abzug der Sowjetunion 1989 war ein grausamer Bürgerkrieg gefolgt. Masood, „der Löwe vom Pandschir“, lieferte sich monatelange Artillerieduelle mit der Truppe von Gulbuddin Hekmatyar. Mehr als die Hälfte aller Häuser Kabuls wurden vernichtet, Zehntausende Menschen starben. Es waren Afghanistans blutigste Jahre. Abdul Hamid erlebte sie im indischen Exil. „Wir erfuhren, dass der Einfluss der Araber größer wurde“, erzählt er von den Jahren ab 1999, in denen Osama Bin Laden und die Al Kaida den Hindukusch zu ihrer Schaltzentrale machten.
Für Abdul Hamid war es eine traurige Zeit. Der Einfluss der Radikalen verwandelte Afghanistan in ein Testlabor religiöser Fanatiker. Doch niemanden schien es zu kümmern. China arrangierte sich mit den Taliban. Die Erben der Sowjetunion wandten sich ab. Die Demokratien des Westens kreisten um sich selbst.
„So tragisch die Ereignisse im September 2001 in New York waren, so gut war es für uns“, sagt Abdul Hamid mit Sinn für historische Ironie. Nach den Al-Kaida-Attentaten wurden die Taliban vertrieben. „Wir konnten zurückkehren. Uns erschien es als neuer Anfang.“Doch 17 Jahre nach der Vertreibung der Taliban und 30 Jahre nach der sowjetischen Invasion steckt Afghanistan wieder in einem blutigen Krieg. Rund eine Viertelmillion Menschen floh seit dem Abzug westlicher Truppen Ende Dezember 2014 nach Europa.
Der Neuanfang scheiterte vor allem am Personal. „Wir sind doch alle nur Kriminelle mit Blut an den Händen. Jeder will nur das Beste für sich selbst herausholen“, meinte Ex-Innenminister und Ex-General Noor-ul-Haq Olomi. Abdul Hamid kann nur zustimmen. Nach einem halben Jahrhundert Enttäuschung ist er zu weise, um alles auf eine Karte zu setzen. Seit seiner Rückkehr lebt er zwar in Kabul, verbringt aber die Wintermonate lieber in der indischen Hauptstadt Delhi. „Man weiß nie“, meint er, und: „Ich habe gelernt, dass in Afghanistan Dinge schlimmer werden können, als man sich vorstellen möchte.“