Werden Sie sich Ihres Selbst bewusst: Sie sind ein Allesfresser
Fergus Henderson sagt, es sei ein Akt der Höflichkeit, ein Tier vom Kopf bis zum Schwanz zu essen. Das ist nur die halbe Wahrheit.
Woran denken Sie, wenn Sie das Wort „Fleisch“lesen? Höchstwahrscheinlich an ein Steak, oder? Dabei ist Fleisch viel mehr. Als bestes Fleisch gelten Innereien. Da sind sich Ernährungsexperten und Katzen einig. Der Löwe interessiert sich kein bisschen für die grazilen Beine der Antilope. Er schätzt nur deren innere Werte. Das Muskelfleisch überlässt er Hyänen und Geiern. Aber frei nach Johannes Mario Simmel: „Es muss nicht immer Antilope sein.“Nehmen wir nur einmal den englischen Koch Fergus Henderson. Der ist heute ein Star, da er nach der Eröffnung seines Restaurants St. John in London Eichhörnchen auftischte. Dieses Gericht ersparte ihm eine teure PR-Agentur. Er wurde in Nullkommanix von militanten Tierschützern bedroht und solcherart weltweit bekannt gemacht. Henderson beruft sich aber bis heute auf die englische Kochtradition und darauf, dass die Gäste seine Eichhörnchen nun einmal zum Fressen gern hätten.
Leider sind Eichhörnchen sauteuer. Interessenten könnten aber nach Peru ausweichen. Dort werden jährlich 50.000 Millionen Meerschweinchen verzehrt. Der Mensch ist eben ein Allesfresser. Zwischen 1966 und 2007 verspeiste der Franzose Michel Lotito auf Jahrmärkten 18 Fahrräder, 15 Supermarktwagen und sogar eine Cessna 150. Sein Lieblingsgericht war die Fahrradkette.
Noch viel besser soll „geröstetes Knochenmark“schmecken. Auch das hat Henderson auf der Karte. Der US-Koch Anthony Bourdain schrieb darüber: Nachdem ich im St. John das geröstete Knochenmark mit Petersiliensalat gegessen habe, erklärte ich es unwiderruflich und für alle Zeiten zur perfekten Wahl für meine Henkersmahlzeit, das letzte Essen, bevor sie mir die Kerze ausblasen. Diese Zeilen finden sich in Hendersons Kochbuch „Nose to Tail Eating – A Kind of British Cooking“. Von der Nase bis zum Schwanz? Und das alles unter briti- scher Flagge? Das klingt verdächtig nach „Blut und Hodenküche“. Henderson meint dazu nur: „Es ist ein Akt der Höflichkeit, ein Tier vom Kopf bis zum Schwanz aufzuessen.“So sind sie halt, die Briten: immer schön höflich.
Meine Großeltern waren auch so höflich. Sie konnten aber auch nicht anders. Damals gab es nicht viel Steaks. Aber sie hatten Kalbskopf, Vögerl, Züngerl, Leber und Beuschel. All diese Teile muss man heute vorbestellen. Da fühlt man sich, als ob man einen Mord erst in Auftrag gibt.
Und was würde Henderson als Henkersmahlzeit wählen? Seine Antwort: „Seeigel, roh. Aufschneiden und sofort essen. Und Ziegenkäse, einen roten Burgunder, Schokoladeeis und Eau de Vie, Zigaretten – dann müsste die Musik von Wilson Pickett spielen, damit ich betrunken tanzen kann, bis es vorbei ist.“