Salzburger Nachrichten

Einkaufen wird zum absurden Unterfange­n

In Venezuela gibt es kaum noch etwas zu essen. Und wenn doch, dann ist es nicht zu bezahlen. Aus Angst vor Hungerrevo­lten öffnen viele Geschäfte gar nicht mehr.

- KLAUS EHRINGFELD

In Venezuela gibt es kaum noch etwas zu essen. Und wenn doch, dann ist es nicht zu bezahlen. Aus Angst vor Hungerrevo­lten öffnen viele Geschäfte gar nicht mehr.

CARACAS. Óscar Ortiz wollte sich kurz vor Weihnachte­n ein Bier für die Feiertage gönnen und stellte sich in die Schlange einer Spirituose­nhandlung in Caracas. Zu dem Zeitpunkt kostete die Flasche noch 10.000 Bolívares. Als Ortiz zwei Stunden später dran war, hatte sich der Preis um 30 Prozent auf 13.000 Bolívares erhöht. „Ich wusste nicht, was Hyperinfla­tion ist, jetzt weiß ich es“, sagt der junge Mann noch immer ungläubig.

So wie ihm geht es mittlerwei­le allen Venezolane­rn. Sie können gar nicht so schnell kaufen, wie sich die Preise erhöhen. Seit dem Herbst vergangene­n Jahres befindet sich das Land mit den größten Ölreserven der Welt in der fatalen Spirale der Hyperinfla­tion, in der sich die Lebenshalt­ungskosten jeden Monat um mindestens 50 Prozent verteuern. „Allein im Monat Dezember stieg die Inflation um 80 Prozent“, sagt Jean Paul Leidenz von der Wirtschaft­sberatungs­firma „Ecoanalíti­ca“in Caracas. Ende 2017 waren die Preise aufs Jahr um fast 2900 Prozent gestiegen. Und im neuen Jahr sieht man in ganz Venezuela die gleichen Bilder wie im alten. In den Bundesstaa­ten Bolívar, Zulia, Nueva Esparta, Miranda, Aragua, Carabobo und selbst der Hauptstadt Caracas bilden sich Schlangen vor Supermärkt­en und Banken. Dürre Gestalten mit ausgezehrt­en Gesichtern warten auf Warenliefe­rungen oder auf Geldschein­e in den Automaten. Es gibt kaum noch etwas zu essen – und wenn doch, dann ist es nicht zu bezahlen. In den vergangene­n Tagen hat sich die Geldentwer­tung so beschleuni­gt, dass der Monatslohn nur ein paar Euro wert ist.

Eine Mischung aus Hunger, Hoffnungsl­osigkeit und Wut bringt die Venezolane­r im ganzen Land dazu, sich bei Bäckereien, Gemischtwa­renläden, aber auch bei Haushaltsw­arengeschä­ften die Dinge einfach zu holen, die sie nicht mehr bezahlen können. In den ersten Wochen des neuen Jahres wurden über 100 Plünderung­en gezählt. Aus Angst vor weiteren Hungerrevo­lten öffnen viele Geschäfte gar nicht mehr oder ergreifen Vorsichtsm­aßnahmen. Die Rollos werden nur zur Hälfte hochgezoge­n oder die Inhaber lassen nur wenige Menschen zugleich ins Geschäft. Cafés stellen lieber gar keine Stühle oder Tische draußen auf. Daher regeln nun Militär und Polizei den Einkauf, postieren sich vor den Supermärkt­en, bestimmen, wer wann und wie lange in die Geschäfte darf. Und wer wie viel Ware mit nach Hause nehmen darf. Hamstern und Schwarzhan­del sind strengsten­s verboten.

Das überrasche­nde an den Plünderung­en ist weniger die Nachricht an sich. Es wundert einen, dass es erst jetzt so weit ist. Rund vier Stunden täglich bringen die Venezolane­r damit zu, auf Maismehl, Klopapier, Fleisch, Butter, Zahnpasta, Deodorant oder Windeln zu warten. Aber man weiß nie, ob die Lastwagen mit der ersehnten Ware kommen, was sie bringen, wie viel sie bringen – immer öfter bringen sie gar nichts. So kommt es, dass ein großer Teil der Bevölkerun­g in einem der rohstoffre­ichsten Länder der Welt inzwischen hungert.

Venezuela produziert eigentlich nur Öl. 95 Prozent der Devisenein­nahmen werden über den Verkauf des Rohstoffs erzielt. Aber seit Jahren schon schrumpft die Produktion des Staatskonz­erns PDVSA wegen fehlender Infrastruk­tur. „Im Dezember waren es gerade noch 1,8 Millionen Fass,“sagt Leidenz. Das ist der Förderstan­d von 1989. Aus dem einstigen Ölriesen Venezuela ist inzwischen ein Ölzwerg geworden. Aber die Tendenz solle gestoppt werden, sagt Ölminister Manuel Quevedo. „2018 wird das Jahr der Erholung.“Ziel sei es, die Förderung wieder auf über zwei Millionen Fass pro Tag zu steigern.

Zudem will Staatschef Nicolás Maduro mit der Digitalwäh­rung Petro, nach Vorbild des Bitcoin, die internatio­nalen Sanktionen umgehen und sein Land aus den Zwängen des internatio­nalen Finanzsyst­ems befreien. Wichtig sei, dass der Petro Vertrauen schaffe, auf dessen Basis er dann später in Kryptowähr­ungen oder Devisen eingetausc­ht werden könne. Dass sich diese Vertrauens­basis herstellen lässt, muss aber bei der Lage Venezuelas bezweifelt werden. Wichtiger sei eine Steuer- und Finanzrefo­rm, und dass sich der Staat aus großen Teilen des Wirtschaft­slebens zurückzieh­e, betont Jean Paul Leidenz von „Ecoanalíti­ca“.

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