Wem nützt eine Revolution?
In einem erstmals veröffentlichten Essay zieht Hannah Arendt ein beklemmendes Resümee.
Als Hannah Arendt im Jahr 1967 ihren Essay „Die Freiheit, frei zu sein“ausarbeitete, hatte sie sich schon viele Jahre mit den Phänomenen Totalitarismus und Revolution beschäftigt. Sie griff das Thema noch einmal auf, um die Aktualität ihrer aus der Geschichte gewonnenen Erkenntnisse zu unterstreichen. Revolutionen gehören für sie zu einer Konstante der Geschichte. Also muss es auch Konstanten ihres Verlaufs geben: „Keine Revolution, mochte sie ihre Tore auch noch so weit für die Masse und die Geknechteten öffnen (…), wurde je von diesen begonnen.“Voraussetzung dafür sei der innere Niedergang eines Regimes. Ein Machtvakuum breche auf, in das neue Kräfte eindrängen, um das System zu sprengen.
Es gibt keine Garantie für das Gelingen einer Revolution. Als spektakulär gescheitert sieht Hannah Arendt, eine der wichtigen politischen Denkerinnen des 20. Jahrhunderts, die Französische Revolution, und dennoch ist diese für Europa zu einem Symbol des Aufstands gegen Tyrannei schlechthin geworden. Das Besondere der Französischen Revolution besteht darin, dass sich vehement das Volk, das vorher niemand gefragt hatte, einmischte. Es tritt aus der Unsichtbarkeit, die den Armen eigentlich angemessen ist. Mit einem Schlag habe „die Unwiderstehlichkeit einer Bewegung“die Regie übernommen, „die von menschlicher Macht nicht mehr zu kontrollieren war“, stellt Hannah Arendt fest. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit seien glänzende Parolen gewesen, die an der Wirklichkeit der Revolution zerschellt seien, als es um die elementare Freiheit gegangen sei: die Beseitigung von Hunger und Not.
Saint-Just, den mit dem gemeinen Volk nicht viel verband, verstand rasch, worauf es ankam: „Wenn man eine Republik gründen will, muss man zunächst das Volk aus seiner elenden Lage befreien, die es verdirbt. Ohne Stolz gibt es keine politischen Tugenden, und wer unglücklich ist, kann keinen Stolz haben.“
Die Amerikanische Revolution, die immerhin zur Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten und deren Unabhängigkeitserklärung als Maßstab für die Einhaltung der Menschenrechte führte, hat es nie zu dieser Popularität gebracht. Die größte Schwierigkeit, vor der alle Revolutionäre stehen, ist das Schaffen einer neuen Ordnung. Sie ist das eigentliche Ziel, die Möglichkeit des Scheiterns auf dem Weg dorthin ist gewaltig. „Frei zu sein für einen Neuanfang“ist die Verheißung und die Losung einer jeden Revolution.
Optimismus ist nicht die herausragende Eigenschaft der Intellektuellen Hannah Arendt. Sie sieht in ihrer Gegenwart zahlreiche politische Krisenherde, die einen Neuanfang dringlich machen, aber nirgends Personen von „praktischer und theoretischer Klugheit (…), die an die Männer der Amerikanischen Revolution heranreichen“. Es war die Zeit des Vietnamkriegs, und afrikanische Staaten machten sich bereit, ihre imperialistische Vergangenheit abzuschütteln. Afrikanische Länder mit stabilen Regierungen, vielleicht auch noch frei von Korruption, sind selten.
Heute beobachten wir Revolutionen im arabischen Raum, in Afrika und Asien und deren Scheitern. Die Befürchtung, dass „die Freiheit in einem politischen Sinn nicht wieder für Gott weiß wie viele Jahrhunderte von dieser Erde verschwindet“, ist nicht gebannt. Arendts Resümee ist so aktuell wie beklemmend: Verunglückte Revolutionen führen zu einer verhängnisvollen Restauration, die die Bevölkerung mit Gewalt in Schach hält.
Anleihen nahm Hannah Arendt bei Henry David Thoreau und dessen Essay „Leben ohne Grundsät- ze“, der in einer Neuübersetzung erschienen ist. „Was bedeutet es, frei geboren zu sein und nicht frei zu leben?“, fragt er pathetisch. Und: „Welchen Wert hat irgendeine politische Freiheit, wenn sie nicht ein Mittel ist zu moralischer Freiheit?“Das liest sich, als hätte es Hannah Arendt selbst formuliert.
Bücher: Hannah Arendt, „Die Freiheit, frei zu sein“, aus dem amerikanischen Englisch von Andreas Wirthensohn, Nachwort von Thomas Meyer, 63 Seiten, dtv, München 2018. Henry David Thoreau: „Leben ohne Grundsätze“, Essay, aus dem Amerikanischen von Peter Kleinhempel, 85 S., Limbus, Innsbruck 2017.
„Mein Thema (...) ist fast schon beschämend aktuell.“