Wieso eine ereignislose Zugfahrt die Fernsehzuschauer fesselt
Ein australischer TV-Sender strahlte zur Primetime eine dreistündige Zugfahrt aus, in Norwegen werden wandernde Rentiere gezeigt. „Slow TV“nennt sich der quotenstarke Trend.
SALZBURG. Schier endlose Schienen und ganz viel Natur. Dazu ab und zu Texteinblendungen, die auf Sehenswürdigkeiten hinweisen. Nichts anderes wird geboten. Kein Kommentar, keine Hintergrundmusik, auch keine Werbung. Auf SBS, einem der beiden öffentlich-rechtlichen Rundfunkgesellschaften Australiens, lief kürzlich „The Ghan – Australia’s Greatest Train Journey“. Drei Stunden lang, zur besten Sendezeit zwischen 19.30 Uhr und 22.30 Uhr, wurde aus der Sicht des Lokomotivführers eine Zugfahrt gezeigt. Und zwar Auszüge der an sich 54 Stunden dauernden Reise zwischen Adelaide und Darwin.
Wie orf.at oder der „Daily Telegraph“berichten, wurde die Zugfahrt von mehr als 400.000 Zuschauern durchgehend verfolgt. Es war die höchste Quote des Senders seit der Übertragung des Eurovision Song Contest (mit australischer Beteiligung) im Mai 2017. Die Quote hält SBS auch all jenen entgegen, die etwa auf Twitter kritisieren, dass man solch ein Format nicht mit Steuergeld finanzieren könne.
„Australia’s Greatest Train Journey“ist nicht das erste wenig ereignisreiche TV-Format, das Massen begeistert. Der norwegische Sender NRK versucht sich seit Jahren mit sogenanntem Slow TV: Schifffahrten wurden ebenso gezeigt wie Stricken. Einen speziellen Höhepunkt lieferte man 2017. Eine Woche lang wurde eine Rentierherde bei einer Wanderung begleitet – in Echtzeit.
Doch wieso funktionieren solche Sendungen? Medienpsychologe Peter Vitouch macht das „physiologische Aktivierungsniveau“des Menschen als einen Grund fest. Dieses Aktivierungsniveau begleite unseren Tag: In der Früh sei es meist gering, in Stresssituation gehe es nach oben – und am Abend wünsche man sich, das Niveau zu drücken. „Und da bieten sich Formate an, die entspannende Reize liefern.“
Auch Bernadette Kamleitner, Konsumentenpsychologin an der WU Wien, sieht das Entschleuni- gende als Hauptreiz solcher Formate. In einer Welt, in der eine Millisekunden-Verzögerung auf einer Website Probleme mache, kippe der Mensch „irgendwann zurück in das Gegenteil“. Dass aktuell Aufenthalte in Schweigeklöstern oder Yogakurse hoch im Kurs stehen, belege den Trend. Und dieser sei ein globaler, „der nicht von heute auf morgen verschwinden wird“.
Aber wenn es diesen Trend gibt, sollten dann nicht heimische Sender auf ähnliche Formate setzen? Ja, sagen Bernadette Kamleitner und Peter Vitouch. Und in der Tat gab es solche Sendungen im deutschsprachigen Raum immer wieder – wenngleich meist in den Nachtstunden. Die ARD zeigte bereits ab 1995 „Die schönsten Bahnstrecken Deutschlands“. Der Bayerische Rundfunk setzte in seiner „Space Night“auf entspannende Bilder aus dem Weltraum. Auf dem Wiener Regionalkanal W24 kann man sogar heute noch „die Hauptstadt direkt aus der Fahrerkabine der Bim erleben“. Und selbst der ORF zeigte 1987 von 9 Uhr früh an eine 462-minütige Zugfahrt von Wien nach Feldkirch – anlässlich des Jubiläums „150 Jahre Eisenbahn in Österreich“.
Für ein ORF-Primetime-Format sei „Slow TV“nicht unbedingt geeignet, meint Peter Vitouch, parallel auch ORF-Publikumsrat. Aber „ein bisschen später“könnte er sich solche Formate gut vorstellen. Bernadette Kamleitner geht noch einen Schritt weiter: Ihrer Ansicht nach könnte sich sogar ein ganzer (Sparten-)Sender zu einer „Slow TV“-Aufmachung bekennen.
Zumindest SBS will dem Thema treu bleiben. Bereits am Sonntag wurde das Programm umgestellt: Um 2.20 Uhr wurde die Zugfahrt neuerlich ausgestrahlt – dieses Mal in einer 17-Stunden-Fassung.
„Ich kann mir so was im ORF vorstellen.“Peter Vitouch, Medienpsychologe