Eine Annäherung an die Türkei benötigt Augenmaß
Recep Tayyip Erdoğan hebelt die Demokratie in seinem Land aus. Trotzdem darf die EU die Brücken zu Ankara nicht abbrechen.
Recep Tayyip Erdoğan regiert die Türkei im Alleingang. Er setzt auf Notstandsdekrete, die Parlament und Gerichte aushebeln. Mit einem Federstrich kann der Staatschef willkürlich über das Schicksal von Menschen entscheiden. Fast 152.000 Beschäftigte des öffentlichen Dienstes ließ er seit dem Putschversuch 2016 feuern. Allein im Dezember verloren 2756 Staatsdiener ihre Jobs. Dass Tausende wieder eingestellt werden mussten, weil sich ihre Entlassungen als unbegründet herausstellten, macht die Sache nicht besser. Gesellschaftlich sind diese Menschen als „Verräter“und „Terroristen“stigmatisiert.
Während Erdoğan mit der Verlängerung des Ausnahmezustands seine Macht weiter festigt, kündigt sich in den Beziehungen zu Europa Tauwetter an. Die deutsch-türkischen Konsultationen, die 2017 ausgesetzt wurden, werden wieder aufgenommen. Auch Brüssel geht auf die Türkei zu: Im März planen Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und weitere EU-Spitzenpolitiker ein Treffen mit Erdoğan.
Das scheint auf den ersten Blick nicht zusammenzupassen mit dem Zerfall der demokratischen Strukturen in der Türkei. Aber die Wiederannäherung hat Sinn – wenn sie mit Augenmaß und ohne Illusionen betrieben wird. Erdoğan beginnt offenbar zu erkennen, was türkische Wirtschaftsführer seit jeher wussten: Die Türkei braucht Europa. Die EU ist größter Handelspartner und wichtigster Investor. Die Aussetzung der Verhandlungen über eine Zollunion, von der die Türkei stark profitieren würde, zeigte daher ebenso Wirkung wie die Zurückhaltung der ausländischen Investoren. Die wirtschaftliche Entwicklung aber ist das A und O für Erdogan. Nur wenn die Konjunktur läuft, kann er der schnell wachsenden Bevölkerung genügend Arbeitsplätze anbieten.
Aber man mache sich nichts vor: Selbst mit wirtschaftlichem Druck kann die EU nur sehr begrenzt Einfluss nehmen. Mit der Haftentlassung mehrerer deutscher Gefangener hat die Türkei zwar jüngst Entspannungssignale ausgesandt. Solange in der Türkei mehr als 150 regierungskritische Journalisten hinter Gittern sitzen, solange die Medien gegängelt und Oppositionspolitiker verfolgt werden, solange die Gewaltenteilung ausgehebelt ist, kann es im Verhältnis zu Ankara keine Normalität geben.
Doch so unerträglich die Missachtung demokratischer Grundrechte auch ist: Die EU darf die Brücken nach Ankara nicht abbrechen. Das schuldet sie den eigenen Werten und der demokratischen Opposition in der Türkei.