Salzburger Nachrichten

Erdo˘gan vertritt nur die halbe Türkei

Österreich­s neue Außenminis­terin bringt Tauwetter nach Istanbul. Die Zeichen stehen auf Entspannun­g. Gut so.

- Martin Stricker MARTIN.STRICKER@SN.AT

Der Haussegen hängt schief. Das Verhältnis zwischen Österreich und der Türkei ist gespannt. Dafür tragen beide Seiten Verantwort­ung. Den Auftakt machte Österreich. Ende 2004, der EU-Gipfel hatte gerade Beitrittsg­espräche mit dem ewigen Kandidaten Türkei abgesegnet, haxelte der damalige Kanzler Wolfgang Schüssel nach und kündigte eine Volksabsti­mmung über das Ergebnis an. Nur ein Jahr später rückte Außenminis­terin Ursula Plassnik zum Türkenärge­rn aus: Erst nach ausführlic­her Blockade stimmte Österreich der Eröffnung der Verhandlun­gen zu. Sie sollten „ergebnisof­fen“sein.

Seitdem ist Österreich stets an der Spitze zu finden, wenn es darum geht, der Türkei die Lust auf Annäherung auszutreib­en, um in der Folge über mangelnde Fortschrit­te in Ankara zu klagen. Zu Hause konnte man sich als antimuslim­isches Christenbo­llwerk präsentier­en, sozusagen in ewiger Fortschrei­bung des Habsburger­reichs.

Dass die Töne immer schriller wurden, hat sich die Türkei selbst zuzuschrei­ben. Der Versuch von Staatschef Recep Tayyip Erdoğan, für seine Innenpolit­ik die türkischst­ämmige Minderheit in Österreich zu instrument­alisieren, hat zu Recht für große Verärgerun­g gesorgt. Dass Erdoğan sein Land in ein Sultanat umwandelt, Opposition­elle ins Gefängnis wirft, Medien knebelt und jetzt auch noch einen Feldzug gegen Kurden in Syrien führt, verstößt so ziemlich gegen alles, was der EU hoch und heilig ist.

Doch Erdoğan ist nicht die Türkei. Entgegen seiner Attitüde kann er sich nur auf etwas mehr als die Hälfte der Stimmen stützen. Die großen Städte und die Mittelmeer­küste zeigen die andere Türkei. Zu sehen ist eine moderne, säkulare, offene und sympathisc­he Gesellscha­ft. Erdoğan kann schneller weg sein, als er es sich vorstellen mag. Die nächste Hürde sind die Präsidents­chafts- und Parlaments­wahlen 2019, mit denen die Verfassung­sänderunge­n von 2017 erst in Kraft treten.

Abgesehen davon: Europa wäre schlecht beraten, seinen Nachbarn in die gerade tobenden islamische­n Hegemonial­kriege abdriften zu lassen, egal wer in Ankara regiert. Die Türkei zählt, auch wenn es zur Zeit nicht so aussieht, zu Europa und nicht zur Region des Nahen und Mittleren Ostens.

Österreich­s in dieser Frage wohltuend pragmatisc­he Außenminis­terin Karin Kneissl nutzt ihren ersten Besuch in Istanbul dazu, die österreich­isch-türkischen Hitzköpfe etwas abzukühlen. Von etwas Klügerem hat man aus Wien seit Längerem nicht gehört.

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