Erdo˘gan vertritt nur die halbe Türkei
Österreichs neue Außenministerin bringt Tauwetter nach Istanbul. Die Zeichen stehen auf Entspannung. Gut so.
Der Haussegen hängt schief. Das Verhältnis zwischen Österreich und der Türkei ist gespannt. Dafür tragen beide Seiten Verantwortung. Den Auftakt machte Österreich. Ende 2004, der EU-Gipfel hatte gerade Beitrittsgespräche mit dem ewigen Kandidaten Türkei abgesegnet, haxelte der damalige Kanzler Wolfgang Schüssel nach und kündigte eine Volksabstimmung über das Ergebnis an. Nur ein Jahr später rückte Außenministerin Ursula Plassnik zum Türkenärgern aus: Erst nach ausführlicher Blockade stimmte Österreich der Eröffnung der Verhandlungen zu. Sie sollten „ergebnisoffen“sein.
Seitdem ist Österreich stets an der Spitze zu finden, wenn es darum geht, der Türkei die Lust auf Annäherung auszutreiben, um in der Folge über mangelnde Fortschritte in Ankara zu klagen. Zu Hause konnte man sich als antimuslimisches Christenbollwerk präsentieren, sozusagen in ewiger Fortschreibung des Habsburgerreichs.
Dass die Töne immer schriller wurden, hat sich die Türkei selbst zuzuschreiben. Der Versuch von Staatschef Recep Tayyip Erdoğan, für seine Innenpolitik die türkischstämmige Minderheit in Österreich zu instrumentalisieren, hat zu Recht für große Verärgerung gesorgt. Dass Erdoğan sein Land in ein Sultanat umwandelt, Oppositionelle ins Gefängnis wirft, Medien knebelt und jetzt auch noch einen Feldzug gegen Kurden in Syrien führt, verstößt so ziemlich gegen alles, was der EU hoch und heilig ist.
Doch Erdoğan ist nicht die Türkei. Entgegen seiner Attitüde kann er sich nur auf etwas mehr als die Hälfte der Stimmen stützen. Die großen Städte und die Mittelmeerküste zeigen die andere Türkei. Zu sehen ist eine moderne, säkulare, offene und sympathische Gesellschaft. Erdoğan kann schneller weg sein, als er es sich vorstellen mag. Die nächste Hürde sind die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2019, mit denen die Verfassungsänderungen von 2017 erst in Kraft treten.
Abgesehen davon: Europa wäre schlecht beraten, seinen Nachbarn in die gerade tobenden islamischen Hegemonialkriege abdriften zu lassen, egal wer in Ankara regiert. Die Türkei zählt, auch wenn es zur Zeit nicht so aussieht, zu Europa und nicht zur Region des Nahen und Mittleren Ostens.
Österreichs in dieser Frage wohltuend pragmatische Außenministerin Karin Kneissl nutzt ihren ersten Besuch in Istanbul dazu, die österreichisch-türkischen Hitzköpfe etwas abzukühlen. Von etwas Klügerem hat man aus Wien seit Längerem nicht gehört.