Zu viel Kontrolle
Kinder brauchen Freiräume, in denen sie sich auch blaue Flecken holen dürfen. Gebremst werden sie dabei in erster Linie von ihren Eltern.
Immer mehr Kinder wissen nicht, wie man auf einen Baum klettert, wie man sich auf einem Waldweg bewegt oder sich bei einem Sturz richtig abrollt. „Bei unseren Sommercamps bemerken wir, dass für manche Kinder sogar das Runterspringen von einem kleinen Absatz problematisch ist“, schildert Hanna Moser, Leiterin der Alpenvereinsjugend mit rund 30.000 Mitgliedern im Bundesland Salzburg. Schuld daran sei weniger die zunehmende Verstädterung, denn auch in einer Stadt lassen sich Wiesen, kleine Waldstücke oder ein Bach finden. Vielmehr seien es übervorsichtige Eltern, die ihrem Nachwuchs die Möglichkeit nähmen, die Natur und damit verbundene Risiken aus eigener Kraft wahrzunehmen. Mit einer humorvollen PostkartenKampagne will der Elternverein nun diese übervorsichtigen Eltern dazu bringen, über ihr eigenes Verhalten nachzudenken.
„Freiräume außerhalb normierter Spielplätze sind für die motorische Entwicklung der Kinder wichtig, aber auch für deren Selbstvertrauen“, sagt Nicole Slupetzky, Vizepräsidentin des Alpenvereins. Der Wunsch der Eltern, den Kindern dürfe nur ja nichts passieren, könne dabei nicht erfüllt werden, ergänzt Sozialpädagoge Jürgen Einwanger. „Kinder lernen zu gehen, indem sie stürzen. Eltern, die sie davor bewahren wollen, verhindern den Lernerfolg“, erklärt der Experte.
Einwanger leitet die Alpenverein-Akademie und rät Eltern dazu, ihren Kindern nicht auf Schritt und Tritt zu folgen, sie zu Fuß in die Schule und zu Freunden gehen zu lassen, ihnen Raum für eigenständige Unternehmungen zu geben. Ein Kind, das ständig mit der Aufforderung, in der Nähe zu bleiben oder nicht in den Gatsch zu greifen, konfrontiert werde, habe keine Chance, eigene Erfahrungen mit der Natur zu machen.
„Meine eigenen Kinder dürfen Holz hacken und Taschenmesser benützen – und das erschreckt manchmal andere Eltern. Wenn sie sich mit dem Messer schneiden, dann wissen sie beim nächsten Mal, worauf sie achten müssen. So funktioniert Lernen. Und kleine Narben erzählen kleine Heldengeschichten“, so Einwanger. Er kann sogar dem Raufen etwas abgewinnen, „wenn es im Rahmen einer Rangelei bleibt“. Warum das Raufen wichtig ist? „Kinder, die nicht ab und zu einmal raufen, machen ihre Gewalterfahrungen nur über den Bildschirm. Weil die Computerfigur aber immer wieder aufsteht, entwickeln sie kein Gespür dafür, wo die Grenze liegt, weil sie kein Gespür dafür haben, wie weh das jetzt gerade tut.“
Spielplätze sind in Einwangers Augen kein adäquater Ersatz für die freie Natur. „Allein die niedrige Höhe von Klettertürmen verhindert schon, dass ein Kind ein Gespür dafür bekommen kann, ab wann es zu hoch oben ist.“Genau das wäre aber wichtig, um eigene Grenzen erkennen und mögliche Risiken einschätzen zu lernen.
„Kleinere Narben erzählen Geschichten von Helden.“Jürgen Einwanger, Sozialpädagoge