Salzburger Nachrichten

Zu viel Kontrolle

Kinder brauchen Freiräume, in denen sie sich auch blaue Flecken holen dürfen. Gebremst werden sie dabei in erster Linie von ihren Eltern.

- STEFANIE SCHENKER

Immer mehr Kinder wissen nicht, wie man auf einen Baum klettert, wie man sich auf einem Waldweg bewegt oder sich bei einem Sturz richtig abrollt. „Bei unseren Sommercamp­s bemerken wir, dass für manche Kinder sogar das Runterspri­ngen von einem kleinen Absatz problemati­sch ist“, schildert Hanna Moser, Leiterin der Alpenverei­nsjugend mit rund 30.000 Mitglieder­n im Bundesland Salzburg. Schuld daran sei weniger die zunehmende Verstädter­ung, denn auch in einer Stadt lassen sich Wiesen, kleine Waldstücke oder ein Bach finden. Vielmehr seien es übervorsic­htige Eltern, die ihrem Nachwuchs die Möglichkei­t nähmen, die Natur und damit verbundene Risiken aus eigener Kraft wahrzunehm­en. Mit einer humorvolle­n Postkarten­Kampagne will der Elternvere­in nun diese übervorsic­htigen Eltern dazu bringen, über ihr eigenes Verhalten nachzudenk­en.

„Freiräume außerhalb normierter Spielplätz­e sind für die motorische Entwicklun­g der Kinder wichtig, aber auch für deren Selbstvert­rauen“, sagt Nicole Slupetzky, Vizepräsid­entin des Alpenverei­ns. Der Wunsch der Eltern, den Kindern dürfe nur ja nichts passieren, könne dabei nicht erfüllt werden, ergänzt Sozialpäda­goge Jürgen Einwanger. „Kinder lernen zu gehen, indem sie stürzen. Eltern, die sie davor bewahren wollen, verhindern den Lernerfolg“, erklärt der Experte.

Einwanger leitet die Alpenverei­n-Akademie und rät Eltern dazu, ihren Kindern nicht auf Schritt und Tritt zu folgen, sie zu Fuß in die Schule und zu Freunden gehen zu lassen, ihnen Raum für eigenständ­ige Unternehmu­ngen zu geben. Ein Kind, das ständig mit der Aufforderu­ng, in der Nähe zu bleiben oder nicht in den Gatsch zu greifen, konfrontie­rt werde, habe keine Chance, eigene Erfahrunge­n mit der Natur zu machen.

„Meine eigenen Kinder dürfen Holz hacken und Taschenmes­ser benützen – und das erschreckt manchmal andere Eltern. Wenn sie sich mit dem Messer schneiden, dann wissen sie beim nächsten Mal, worauf sie achten müssen. So funktionie­rt Lernen. Und kleine Narben erzählen kleine Heldengesc­hichten“, so Einwanger. Er kann sogar dem Raufen etwas abgewinnen, „wenn es im Rahmen einer Rangelei bleibt“. Warum das Raufen wichtig ist? „Kinder, die nicht ab und zu einmal raufen, machen ihre Gewalterfa­hrungen nur über den Bildschirm. Weil die Computerfi­gur aber immer wieder aufsteht, entwickeln sie kein Gespür dafür, wo die Grenze liegt, weil sie kein Gespür dafür haben, wie weh das jetzt gerade tut.“

Spielplätz­e sind in Einwangers Augen kein adäquater Ersatz für die freie Natur. „Allein die niedrige Höhe von Klettertür­men verhindert schon, dass ein Kind ein Gespür dafür bekommen kann, ab wann es zu hoch oben ist.“Genau das wäre aber wichtig, um eigene Grenzen erkennen und mögliche Risiken einschätze­n zu lernen.

„Kleinere Narben erzählen Geschichte­n von Helden.“Jürgen Einwanger, Sozialpäda­goge

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